Perle Bugnon Secretan: Tradition und Offenheit.

14. November 1909 – 28. Januar  2004.

 

Aufgenommen am 17. Dezember 1999 in Crans-près-Céligny .

http://www.plansfixes.ch/films/perle-bugnion-secretan/

 

> Es ist im Journalismus verpönt, mit Namen Wortspiele zu machen. Aber ist es ein Wortspiel, wenn man feststellt, dass Perle Bugnion eine Perle ist? Darauf kommt doch jeder, der ihr in den „Plans Fixes“ begegnet. Denn „Perle“ bezeichnet nicht nur ihren Vornamen, sondern auch ihre Persönlichkeit. <

 

25 Jahre nach dem famosen Berner Kongress zum internationalen Frauenjahr (den die Feministinnen durch einen unangekündigten Auftritt gestört hatten) hält die Kamera der „Plans Fixes“ das Porträt zweier Organisatorinnen fest. Am 11. November 1999 wird die 68-jährige > Simone Chapuis gefilmt, und am 17. Dezember die 90-jährige Doyenne des Weltbunds der Pfadfinderinnen Perle Bugnion. Die Hauptrednerin des Kongresses, die Philosophin > Jeanne Hersch, wurde schon zwanzig Jahre früher, am 9. März 1979, ins Filmpantheon aufgenommen.

 

Die Perle unter den drei Porträts bildet Perle Bugnion. Nun weiss jeder, dass eine Perle erst dann zur Geltung kommt, wenn sie richtig gefasst wird. Im konkreten Fall liefert Erich Fromm die Fassung. Er stellt in seiner grossen Untersuchung über „Psychoanalyse und Ethik“ (fast ein halbes Jahrhundert vor der Proklamation der Glückspsychologie durch den Harvard-Dozenten Tal Ben-Shahar) fest, dass „der Charakter der normalen, gereiften und gesunden Persönlichkeit“ von „der heutigen Psychologie, insbesondere der Psychoanalyse“ bisher „kaum beachtet“ worden sei. Die Kranken, die Neurotiker, die Leidenden ja – aber die Gesunden, die Glücklichen? Also nimmt sich Erich Fromm vor: „Ich will das Wesen des voll entwickelten Charakters untersuchen, der das Ziel jeder menschlichen Entwicklung ist und zugleich dem Ideal der humanistischen Ethik entspricht.“

 

Dieses Ziel und Ideal hat Perle Bugnion realisiert. Bei ihr zeigt sich, in den Worten Erich Fromms, „die Geschicklichkeit des Menschen, seine Fähigkeiten zu gebrauchen und die in ihm schlummernden Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn wir sagen, er muss seine Fähigkeiten gebrauchen, so heisst dies, dass er frei sein und von niemandem abhängen darf, der ihn und seine Fähigkeiten beherrscht“. Naheliegend, dass sich Perle Bugnion für die Sache der Frau eingesetzt hat; zuerst für das Frauenstimm- und Wahlrecht, dann für die Gleichheit der Rechte von Mann und Frau.

 

Für sie begann die Autonomie in den dreissiger Jahren, als sie für die ältere Schwester als Führerin einer Pfadfinderinnenriege einsprang. Der Wert der Übungen leuchtete ihr unmittelbar ein: Sie vermittelten den Mädchen Gelegenheit, ihre Kräfte zu entdecken. Und weil sich die jungen Geschöpfe ohne Männer durchzubringen lernten, gewannen sie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Damit kamen sie vom Handeln nach Anleitung zur schöpferischen Einstellung. Erich Fromm: „Ein Mensch kann auch schöpferisch erleben, sehen, fühlen und denken, ohne deshalb die Gabe zu besitzen, etwas Sichtbares oder Mitteilbares zu schaffen. Produktivität ist eine Verhaltensweise, die jeder Mensch haben kann, sofern sein Denken und Fühlen nicht verkrüppelt ist.“

 

Es ist also nicht eine Frage des „Habens“, sondern des „Seins“ (um einen weiteren Fromm-Titel zu zitieren), ob jemand jemand „ist“. Nicht das Rangabzeichen, nicht die Position, nicht das Einkommen, nicht das gesellschaftliche Ansehen sind entscheidend für ein glückliches Leben, sondern die „Fürsorge für den andern, Verantwortungsgefühl für den andern, Achtung vor dem andern und wissendes Verstehen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl zeigen an, dass Liebe eine Aktivität ist, nicht aber eine Leidenschaft, die den Menschen überwältigt, und ebenso wenig ein Affekt, durch den man mitgerissen wird.“ Das deklariert Erich Fromm als Autor des Steadysellers „Die Kunst des Liebens“.

 

Die respektvolle Einstellung lebt nun die 90-jährige Perle Bugnion während der Aufnahme vor. Darum ist die Begegnung mit ihr auch so beglückend. Fromm: „Verantwortungsgefühl ist keine Pflicht, die den Menschen von aussen aufgezwungen wird, sondern meine Antwort auf etwas, von dem ich fühle, dass es mich angeht.“ Man kann sich denken, wie schlecht es der Klimaerwärmung bekäme, wenn sich die Mehrheit der zivilisierten Welt von diesem Verantwortungsgefühl leiten liesse. Kaum eine Katastrophe hätte dann noch eine Auftrittschance: Weder die Poleisschmelze noch die Abholzung des Regenwalds noch die Dürre noch die Massenflucht noch die Massenmigration noch der Krieg noch der Hunger noch das Coronavirus.

 

Dabei ist klar – und Perle Bugnion macht es durch ihre Haltung deutlich: „Fürsorge und Verantwortung sind zwar wesentliche Elemente der Liebe, aber ohne Achtung für den geliebten Menschen und ohne Verständnis für ihn artet Liebe in Herrschsucht und Besitzgier aus.“ So läuft die Frage nach dem glücklichen und geglückten Leben auf den heute vergessenen Begriff des Respekts hinaus. Er ist zentral. Das zeigte schon Goethe 1821 in seinem Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“.

 

Der Wanderer kommt nach Hofwil bei Münchenbuchsee in den reformerischen Erziehungsstaat des Berner Patriziers Philipp Emmanuel von Fellenberg (1771–1844). Es handelt sich laut Brockhaus von 1838 um „den berühmten Mann, welcher sich durch seine Verbesserungen in der Landwirtschaft und durch die von ihm angelegten trefflichen Erziehungsanstalten die grössten Verdienste erworben hat. Er legte ein Institut für verwahrloste Kinder an, sowie ein ökonomisches [= landwirtschaftliches] Lehrinstitut zu Buchsee. Im Jahre 1808 wurde noch eine Erziehungsanstalt für Kinder höherer Stände gegründet.“ (Heute: Inforama, Schweizersche Hochschule für Landwirtschaft und musisches Gymnasium Hofwil). Die Spannweite der Fellenbergschen Institute umschreibt der Brockhaus von 2006 mit: „Armenschule bis Gymnasium und Lehrerbildungsanstalt“.

 

In dieser „pädagogischen Provinz“ (Goethe), begegnet der Leser den „drei Ehrfuchten“: Erstens: „Ehrfurcht vor dem was über uns ist.“ Zweitens: „Ehrfurcht vor dem was unter uns ist.“ Drittens: Ehrfurcht vor unseresgleichen. „Nun steht der Mensch strack und kühn, nicht etwa selbstisch vereinzelt; nur in Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte gegen die Welt. Weiter wüssten wir nichts hinzuzufügen.“ Es ist auch nicht nötig. Die Lektion ist klar, einfach und fasslich. „Ehrfurcht! Wilhelm stutzte. – Ehrfurcht, hiess es wiederholt. Allen fehlt sie, vielleicht euch selbst.“ (Goethe)

 

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