André-François Marescotti: Komponist.

30. April 1902 – 18. Mai 1995.

 

Aufgenommen am 16. Mai 1988 in Genf.

André-François Marescotti – Association Plans Fixes

 

> Wenn es nach dem Vater gegangen wäre, hätte es aus André-François Marescotti nicht einen Komponisten, sondern einen Maschineningenieur gegeben. Der italienische Einwanderer betrieb nämlich in Carouge eine mechanische Werkstätte. Sein Traum war, dass der Sohn die Erfindungen des Vaters fachmännisch zeichnen und fürs Patentamt einreichen lerne. Doch dann machte Papa Marescotti einen entscheidenden Fehler: Er schenkte dem Sohn ein Klavier. <

 

Am 27. Januar 1804 deklamierte Madame de Staël „abends in den Zimmern der regierenden Herzogin die drei Hauptszenen aus Racines ,Phädra‘: die Unterredung mit der Önone, wo ihr Phädra ihre Liebe gesteht, die Zusammenkunft mit Hippolyt (diese stehend und in völliger theatralischer Aktion, indem ihr Freund Constant die Rolle des Hippolyt ihr gegenüberstehend las) und die Ausbrüche der Eifersucht in der Unterredung mit der Önone“.

 

Das berichtet der Weimarer Gymnasiallehrer Karl August Böttiger. Wieland, Goethe und Schiller, die drei Häupter der Klassik, blieben der Veranstaltung fern. Sie fanden den Stil der „franzö­sischen pathetischen Deklamation höchst ungeniessbar“. Die Hofleute aber, ohnehin der französischen Lebensart zugetan, waren, wie Böttiger schreibt, für die Darbietung empfänglich:

 

Wenn man die Unnatur und das falsche Pathos der Verse selbst zugegeben hat: so ist dabei alles ein­geräumt, und dann ist die gewaltsame, mit Verzuckun­gen und Geschrei verbundene Deklamation ganz aus einem Stücke mit der Poesie selbst. Die gegenwärtigen Frauen fanden, dass die Staël durch diese Probe ihrer theatralischen Kunst sogar schöner geworden sei. Die Herren waren fortgerissen und fanden Bonapartes Urteil „c’est une femme entrainante, qui ne m’aime pas [sie ist eine hinreissende Frau, die mich nicht mag]“ wenigstens in der ersten Hälfte der Aufführung vollkommen wahr. Schade, dass ihr Organ nicht Biegsamkeit und Modulation genug hat und dass ihre Stimme beim hefti­gen Ausdruck nur zu oft ins Schneidende und Grelle fällt. Auch waren einige Gebärden – zum Beispiel, dass sie sich bei gewissen Ausbrüchen der Leidenschaft auf die Hüften und Oberschenkel klatschte – nicht genug in den Schranken der anständigen Mässigung.

 

Den „Schranken der anständigen Mässigung“ entspricht nun aber das Bild, das, zwei Jahrhunderte nach der Weimarer Szene, der greise Komponist André-François Marescotti in Genf dem Betrachter seines Filmporträts darbietet. Bequem in den Fauteuil zurückgelehnt, legt er seine Gedanken und Erinnerungen ruhig, klar und fasslich vor, und aus seiner ganzen Haltung kann man ablesen, dass er im Leben nicht Darsteller und Dramatiker war, sondern Klavierspieler und Komponist.

 

Vom Klavierspieler stammt die hohe Konzentration auf das, was er hervorbringt. Er gleicht darin Arturo Benedetti Michelangeli. Dieser Pianist hat 1939 mit André-François Marescottis „Fantasque“ den Genfer Musikwett­bewerb gewonnen. „Fantasque“ war das Wettbewerbsstück, und der Wettbewerb war eine Schöpfung Marescottis. Für den 86-jährigen Marescotti ist nun die Ruhe aus der Sammlung heraus ein Charakterzug – und nicht nur ein Alterszeichen – geworden. In ihr spiegelt sich die wohlwollende Autorität des Klavierpädagogen, und mit ihr antwortet er auf die Fragen seines früheren Klavierschülers > Nicolas Bouvier, der es inzwischen zum Schriftsteller gebracht hat. Seit 2018 steht sein Reisebuch „L‘Usage du monde“ in Frankreich auf der Lektüreliste für die Kandidaten des höheren Lehramts (aggrégation de lettres).

 

Bouvier selber ist ebenfalls zur Sammlung fähig. Darum kann er sich zurücknehmen und dem Befragten Raum lassen. Er interveniert erst, wenn sich André-François Marescotti ausgesprochen hat. Ausgesprochen ist die Sache, wenn sie vollständig, klar und deutlich ans Licht getreten ist. Dafür braucht es Dispositionsvermögen. Im Umstand, dass es André-François Marescottis fürs Reden einzusetzen versteht, verraten sich der Komponist – und sein Ideal.

 

Nachdem er bis ins Alter von etwa 43 Jahren im weitesten Sinne impressionistisch geschrieben hatte, wie sich das in Titeln wie „Fantasque“, „Aubade“ (Morgendämmerung) „Giboulées“ (Schneegestöber) oder „Insomnies“ (Schlaflosigkeiten) zeigt, geriet er in eine siebenjährige Schaffenskrise. Er wich den Forderungen der Dodekaphonie und Serialität nicht mehr länger aus, suchte sie aber zu vereinigen mit dem, was in seinen Augen die Musik ausmacht: Fasslichkeit, Schönheit, emotionale Ansprache. „Wozzeck“ von Alban Berg zeigte den Weg. Aber wie diese Höhe erreichen? Darin bestand in André-François Marescottis zweiter Schaffensphase die Herausforderung.

 

Das Verkopfte der Neuen Musik war ihm zuwider: „Häufig ist das nur noch Musik zum Lesen, nicht zum Hören“, sagte er 1988. „Auf dem Papier ist die Logik oft beeindruckend. Aber im Konzertsaal ist sie nicht erkennbar, sobald sie keine Orientierung mehr gestattet. Darum sollten die Komponisten auf Spielbarkeit achten, damit die Musiker den Part bewältigen können, und auf Hörbarkeit, damit das Publikum nicht zwischen dem ersten und zweiten Satz davonläuft.“

 

Mit dieser Auffassung hätte André-François Marescotti Goethes Beifall gefunden. Im Haus am Frauenplan sagte der Olympier am 14. Januar 1827 zu Eckermann: „Es ist wunderlich, wohin die aufs höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen.“ – Zum Glück haben die Komponisten nach 2000 das Problem bemerkt. Wir brauchen ihre Musik nicht abzuschreiben. Goethe und Marescotti hätten an vielem, das heute entsteht, ihre Freude. (Das Konzertpublikum auch.)

 

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