Anne Ansermet: Lebenswege.

12. Dezember 1907 – 30. Mai 1991.

 

Aufgenommen am 27. Januar 1989 in Rolle.

Anne Ansermet – Association Plans Fixes

 

> Gegen das Ende des Gesprächs klagt Anne Ansermet: „Ich habe zu viele Leute gekannt!“ Bertil Galland wirft ein: „Aber das ist doch gut!“ „Ja schon, aber nicht für diese Aufnahme.“ Tatsächlich: Die Aufnahme für die „Plans Fixes“ gestaltet sich zum Who is who der Westschweizer Literaten- und Musikerszene, mit Abstechern nach Paris und zu den „Ballets russes“, in die Zürcher Künstlerschaft, in die Provence und nach Indien in den Buddhismus tibetischer Observanz. Durch all diese Stationen ist Anne Ansermet im Lauf von 82 Jahren gekommen. <

 

Das Magazin ihrer Erinnerungen umfasst tausenderlei Objekte. Denn Anne ist die Tochter von Ernest und Marguerite Ansermet-Jacottet, und die führten in der „Pervenche“ (das Immergrün) ein gastliches Haus. Bei ihnen verkehrten Edmond Gilliard und Paul Budry, die Gründer der „Cahiers vaudois“. „Man sagt, sie hätten ihre Haltung kultiviert“, bemerkt Bertil Galland. „Ja“, bestätigt Anne Ansermet. „Sie waren von sich überzeugt, hatten aber einen bitteren Zug um den Mund.“

 

Was heute noch die Pubertierenden praktizieren, war bis in die 1970er Jahre auch bei den Erwachsenen gang und gäbe: Sie zeigten durch Auftreten und Gehaben an, dass sie jemand seien und Anspruch auf Geltung erhöben – als Dame, als Briefträger, als Professor, als Notar, als Pfarrer, als Offizier, als Literat, als Künstler … Sie pflegten ihre Persönlichkeit und suchten sich von den andern abzuheben. Zusammengefasst führte das zum „Genre“ einer „Schicht“:

 

Der Direktor einer ambulanten Truppe kommt ins Bierhaus und spricht: Herr Wirt, ich brauche einen Liebhaber, ist einer da?

Wirt (auf den jungen Mann deutend): Dort sitzt so was.

Jüngling (steht auf und tritt vor): Ich bin zu Ihren Diensten.

Direktor (nachdem er ihn lange stillschweigend gemessen): Nun, das Wachstum ist nicht übel, da lasst sich was reden. Was spielt der Herr?

Jüngling: Feste Liebhaber.

Direktor: Wo waren wir denn zuletzt engagiert?

Jüngling: Zu Bruck an der Leitha.

Direktor: Schlechte Wirtschaft dort! Bei mir geht’s genauer zu. Wie lange ist der Herr schon beim Theater?

Jüngling: Drei Jahre.

Direktor: Wer waren wir denn früher?

Jüngling: Buchdrucker.

Direktor: Hat der Herr einen schwarzen Frack?

Jüngling: Ja, einen schwarzen, diesen blauen und auch einen Überrock.

Direktor: Das lässt sich hören. Kann der Herr die sieben Aktionen des Königs?

Jüngling: Ich verstehe Sie nicht.

Direktor: Man wird mich gleich verstehen. Zeig’ mir der Herr, wie wird er gehen, wenn er einen König spielt?

Jüngling: (schreitet pathetisch auf und nieder).

Direktor: Nicht übel! Wie grüsst der König?

Jüngling: (nickt herablassend mit dem Kopfe).

Direktor: Bravo! Ich sehe, das geht schon.

Jüngling: Wo spielen Sie denn jetzt, Herr Direktor?

Direktor: In Wilhelmsburg, es ist recht schön dort und hat viele Kunstkenner; der Herr ist engagiert, die Hand darauf! Heute abends um sechs Uhr komme der Herr zum Blauen Bock zu Mariahilf, da fahren wir miteinander mit einem Kälberwagen nach St. Pölten und von dort gehen wir zu Fuss nach Wilhelmsburg.

Jüngling: Ich möchte Sie noch um einen kleinen Vorschuss bitten.

Direktor: Da hat der Herr einen Gulden, und Sie, Herr Wirt, geben Sie dem Mann noch eine Halbe Bier, ein Brot und ein Rostbratl.

 

aus:  „Memoiren meines Lebens“ von Ignaz Franz Castelli (1781 Wien – 1862 ebd.)

 

Auch in der „Pervenche“ war man gegenüber Künstlern grosszügig mit Speis und Trank. Anne erinnert sich: „Strawinsky hob das Glas und rief: ‚Ah, le vin vaudois, Ansermet!‘“ Der Komponist hatte inkognito ein Konzert des Dirigenten im Casino von Montreux besucht. Von da an datierte ihre Freundschaft. Ravel kam vorbei. De Falla. Diaghilew mit seiner Truppe. Er betraute Ansermet von 1915 bis 1923 mit der musikalischen Leitung der „Ballets russes“. Sie begründete Ansermets weltweites Ansehen. Daneben dirigierte Ansermet im Waadtland, mitten im Ersten Weltkrieg, die Uraufführung des Klassikers: „L’Histoire du soldat“. Ramuz, der Freund, hatte das Libretto geschrieben; Strawinsky, der andere Freund, die Musik.

 

Zwischen diesen Grossen bewegte sich das Kind. Sie strichen ihm übers Haar und waren nett zu ihm. Als aber Anne das Violinistinnendiplom vermasselte, schickte sie der Vater nach Freiburg i. Ü. zur Krankenpflegeausbildung. Er dirigierte eben auch sonst alles im Leben. Immerhin, von da an begann Annes eigener Weg. Er führte sie zur Sozialarbeit in die Slums von Paris, wo sie dem jungen > Abbé Pierre begegnete. Da war sie schon zum Katholizismus übergetreten und verheiratet. Sie wechselte dann noch zweimal den Mann und ein drittes Mal den Glauben. Am Ende kam sie zum Buddhismus. Dort fand sie die Ruhe im Absoluten, nach dem sie immer gestrebt hatte.

 

Jetzt blickt die 82-jährige auf die vielen tausend Objekte, die sich im Magazin ihrer Erinnerungen angesammelt haben. Und wir behalten als Erkenntnis: „Reifen besteht nicht im Verzicht auf unsere Sehnsüchte, sondern im Eingeständnis, dass die Welt nicht verpflichtet ist, sie zu erfüllen.“ (Nicolás Gómez Dávila.)

 

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