Jacques Mercanton: Schriftsteller.

16. April 1910 – 27. April 1996.

 

Aufgenommen am 27. November 1985 in Lausanne.

Jacques Mercanton – Association Plans Fixes

 

> An der alten, ungeregelten Universität (Karl Jaspers: „Es gab damals nur eine Parole: Freiheit!“) waren die Studenten gegenüber den Professoren gnadenlos. Durchschnittlichkeit wurde verachtet. Gesucht und frequentiert wurden „simply the best“. In Lausanne gehörte Jacques Mercanton dazu, wie der Film der „Plans Fixes“ zeigt. Wenn man ihn reden hört, kommt man ins Träumen. Professor Mercanton vereinigt die Qualitäten in sich, die laut Vladimir Navokov einen guten Schriftsteller ausmachen: „Geschichten­erzähler, Lehrer, Magier.“ <

 

Vor zehn Jahren sprach ein Literaturprofessor im Deutschlandfunk über den Begriff „unbewusste Erziehung“. Manchmal, behauptete er, wirke sie stärker als die bewusste. Als Beleg führte er eine Jugenderinnerung an: Nicht die Eltern seien es gewesen, die ihm den Wert der Bücher vermittelt hätten, sondern der Deutschlehrer. Wenn er ein Buch zur Hand genommen habe, um daraus vorzulesen, habe er immer zuerst mit den Fingern zart über den Einband gestrichen. Durch diese unbewusste Gebärde habe der Mann seine Liebe zur Literatur verraten. Und im Jungen habe sie Achtung vor dem Buch hervorgerufen.

 

Einen solchen Akt unbewusster Erziehung hat vor sechzig Jahren auch Hans Laemmel vollzogen („Generationen von Schweizern war seine sonore Stimme mit dem unverkennbaren ostschweizerischen Tonfall ein Begriff“, NZZ). In einem Beitrag über das Literaturleben in Paris erwähnte der Frankreich-Korrespondent des schweizerischen Landessenders Büromünster den Schriftsteller Jacques Mercanton. Im Aussprechen des Namens verriet sich eine solche Wärme und Achtung, dass Jacques Mercanton für immer in meinem Gedächtnis verankert wurde.

 

Damit ging es mir ähnlich wie dem Jungen, der im Berner Kirchenfeld Roland Donzé beim Spaziergang begegnete. Als sich Donzé, auch Schriftsteller und Professor, einen Borsalino angeschafft hatte, begannen ihn die Kinder auf der Strasse zu grüssen. Eine Mutter verwunderte sich: „Wenn ich verlange, dass du eine Person grüsst, weigerst du dich. Aber diesen unbekannten Mann da, den grüsst du!“ – „Das ist eben so“, erklärte der Kleine: „Den muss man grüssen!“

 

Den muss man grüssen. Das bestätigt die Begegnung mit dem Filmporträt von Jacques Mercanton in den „Plans Fixes“. Der Literaturprofessor und Schriftsteller beginnt zu erzählen, wie er als Kind zum Buch kam, und schon horcht man auf. Seine Sprache wird geprägt von der Stimme eines Geschichtenerzählers, eines Lehrers und eines Magiers. Was er sagt, ist gleichzeitig präzis, inhaltsreich und faszinierend.

 

Mercanton berichtet vom „Schock“, der ihm im Alter von elf Jahren beim Lesen von Chateaubriands „Mémoires d‘outre-tombe“ zustiess. Bei diesem Prosawerk erlebte er zum ersten Mal, was „Stil“ heisst: also die besondere, schwer auf den Begriff zu bringende Art, in der sich bedeutende Geister ausdrücken. Die Deutschen sprechen in diesem Zusammenhang von „Handschrift“, die Franzosen von „petite musique“.

 

Mercanton und Donzé, die beiden Schriftsteller und Ausnahmeprofessoren, trafen sich in der Hochschätzung der „göttlichen Komödie“. Seit Jugendtagen trug Donzé stets ein Gedichtbändchen bei sich oder „La divina commedia“, die er aufschlug, wann immer er irgendwo warten musste, an der Tramhaltestelle oder im Restaurant; dann las er zwar lautlos, bewegte aber die Lippen, und im Gesicht spiegelte sich der Ausdruck der Verse, während in seinem Innern „la petite musique“ erklang, jenes untrügliche Kennzeichen von Stil, das er auch bei wissenschaftlich hochstehender Prosa wiederfand, bei Sigmund Freud selbstverständlich, aber auch bei Walther Killy, Heinrich Wölfflin, Emil Staiger und Jacob Burckhardt.

 

„La petite musique“ prägte deren Konversationsstil. Le style c’est l’homme. Während wir, dank dem Film, Jacques Mercanton beim allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden zuschauen können, erkennen wir die Richtigkeit von Lessings Bemerkung: „Ich kenne keinen blendenden Stil, der seinen Glanz nicht mehr oder weniger von der Wahrheit entlehnt.“

 

Wahrheit ist es nämlich, was Mercanton erfassen und wiedergeben will. Darum ringt er beim Sprechen um den richtigen Ausdruck. In den Bewegungen, die sein Gesicht durchlaufen, sieht man ihn abwägen zwischen Weggabelungen, Inhalten, Prioritäten – und dann setzt er mit der Sicherheit eines Traumwandlers das nächste Wort in die Kette der Gedanken, und dieses Wort ist das treffende; keine Floskel. Das Balancieren aber macht Mercantons Rede mehr als lebendig, es macht sie spannend.

 

Dazu Gerhard Ebeling in seiner „Einführung in theologische Sprachlehre“:

 

Die spezifische Funktion von Sprache – und deshalb ihre Notwendigkeit – wird erst dann deutlich, wenn die Sache, um die es geht, nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres erkennbar und anwesend ist, vielmehr erst durch die sprachliche Äusserung zur Anwesenheit gelangt. Deshalb ist das Gegenwärtigmachen von Vergangenem und von Zukünftigen so wie das Ans-Licht-Bringen von Verborgenem charakteristisches Geschäft der Sprache. Zur Kennzeichnung dieser Sprachrelation genügt es nicht, die Zeichenfunktion der Sprache geltend zu machen. Durch die Sprache vollzieht sich vielmehr eine Begegnung mit der Sache selbst.

 

Im Unterschied zu den übrigen wissenschaftlichen Fächern geht es im Literaturunterricht nicht bloss um Inhalte, sondern um die Herausbildung und Schärfung des Sinns für poetische Subtilitäten. Mit koketter Einfachheit deklarierte Walther Killy jeweils zu Semesterbeginn: „Ich bin Professor für Philologie. Bei mir sollen Sie lesen lernen.“

 

Damit bezog er sich auf eine Bemerkung Goethes:

 

Es gibt dreierlei Arten Leser: Eine, die ohne Urteil geniesst, eine dritte, die ohne zu geniessen urteilt, die mittlere, die geniessend urteilt und urteilend geniesst; diese reproduziert eigentlich ein Kunstwerk aufs Neue.

 

Um urteilend geniessen zu können und damit ein Kunstwerk aufs Neue zu reproduzieren, muss man, wie Vladimir Navokov in seiner „Kunst des Lesens“ ausführt, wegkommen von der

 

vergleichsweise schlichten Art, die ihre Zuflucht bei einfachen Gefühlen sucht und stark persönlich gefärbt ist:

 

Eine in einem Buch beschriebene Situation wird lebhaft mitempfunden, weil sie uns an etwas erinnert, das uns oder jemandem, den wir kennen, widerfahren ist. Oder aber, ein Leser schätzt ein Buch hauptsächlich deshalb, weil es ein Land, eine Landschaft, eine Lebensweise heraufbeschwört, die er sehnsuchtsvoll als Teil seiner eigenen Vergangenheit erkennt. Oder aber, und das ist eigentlich das Schlimmste, was ein Leser tun kann, er identifiziert sich mit einer im Buch auftretenden Gestalt. Diese Art wenig entwickelter Vorstellungs­kraft halte ich bei einem Leser nicht für wünschenswert.

 

Wie nun sieht das vom Leser zu benutzende Werkzeug aus? Es besteht in einer von seiner Person losgelösten Vorstellungskraft und in künstlerischem Entzücken.

 

Ein weiterer grosser Schriftsteller, Theodor Fontane, konnte übers falsche Lesen ein Lied singen. Als seine Novelle „Schach von Wuthenow“ von der „Vossischen Zeitung“ in Fortsetzungen abgedruckt wurde, befand er sich auf Sommerfrische in Norderney:

 

Ich ging an den Strand und dämmerte so von Bank zu Bank. Als ich an der Hauptstelle war, wo viele Hunderte von Korbhütten stehn, in denen man die Strandluft geniesst, fühlte ich mich von hinten her gepackt. Professor Michael schleppte mich bis an seine Korbhütte, wo ich nun der Frau Professorin und ihrem 19-jährigen Sohne, einem jungen Studenten, der für Gegenwart und Magazin Kritiken schreibt, vorgestellt wurde. Die Frau Professorin begrüsste mich sehr herzlich, zeigte mir die neueste Nummer der Vossin und sagte: „Eben habe ich von Ihnen gelesen; sehen Sie, hier; es ist so spannend, man kennt ja alle Strassennamen.“

 

Die Strandpromenade mit den drei Herrschaften dauerte wohl noch anderthalb Stunden, und die Gutmütigkeit und Freundlichkeit der Frau Professorin gefiel mir. Ich kam dadurch sozusagen auf meine Kosten. Aber das Urteil: „Es ist so spannend; man kennt ja fast alle Strassennamen“, hat doch einen furchtbaren Eindruck auf mich gemacht.

 

Das ist nun also das gebildete Publikum, für das man schreibt, und der 19-jährige junge Sohn (der mir übrigens gefallen hat) geht nebenher und kritisiert Gustav Freytag, Adolf Glaser und natürlich auch mich in Gegenwart und Magazin, also in den vornehmsten und angesehensten Blättern, die Deutschland hat. Alles macht einen wahren Jammereindruck auf mich, und wenn ich nicht arbeiten müsste, würd ich es in einem gewissen Verzweiflungszustände, in dem ich mich befinde, doch wahrscheinlich aufgeben.

 

Wie recht hatte Vladimir Nabokov, als er statuierte: „Literatur ist immer Erfindung. Alles Erdichtete ist etwas Erdachtes. Wer eine Geschichte ,wahr‘ nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“

 

Theodor Fontane wäre am Strand von Norderney besser mit Vladimir Nabokov oder Jacques Mercanton zusammengetroffen. Dann hätte er im Brief an seine Frau von einer Sternstunde sprechen können – wie wir bei der Betrachtung des Films.

 

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