Guillaume Chenevière: Verschiedene Leben.

25. Februar 1937 –

 

Aufgenommen am 29. August 2017 in Confignon.

Guillaume Chenevière – Association Plans Fixes

 

> An Guillaume Chenevière kann man ablesen, was das Wort „erfolgreich“ bedeutet: „Reich an Erfolgen“. Der Mann war Lizenziat in Soziologie, Redaktor an der „Tribune de Genève“, Mitglied des Exekutivkomitees von Chrysler, Administrator, später Direktor des Théâtre de Carouge, wo er auch spielte und inszenierte; dann Leiter Kultur und Unterhaltung des Westschweizer Fernsehens (er produzierte unter anderem die Filme „Les petites fugues“ und „Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000“), und schliesslich bis zur Pensionierung Generaldirektor der Fernsehanstalt. Daneben schrieb Guillaume Chenevière Bücher; zuletzt, 2012: „Rousseau, Une histoire genevoise“. <

 

Im Porträt, das die „Plans Fixes“ von Guillaume Chenevière bringen, warnt der Achtzigjährige eindringlich vor der Überschätzung der Gegenwart: Das Heute ruhe auf dem Gestern. Es sei seine Folge. Gleich sieht es der 72-jährige Philosoph Alain Finkielkraut. Vor zwei Wochen stellte er fest: „Die Gegenwart ist der neue Chauvinismus.“ Frühere Zeiten würden verachtet, schlecht­geredet, ignoriert. – Wenn diese Beobachtung stimmt, bestätigt sie Egon Friedells These, jede Epoche sei von der Krankheit gezeichnet, die sie charakterisiere. Bei uns: Alzheimer. Wer daran erkrankt, ist, wie unsere Gesellschaft, eingeschlossen in permanenter Gegenwart.

 

Die Aufnahme mit Guillaume Chenevière erfolgt nun aber in einem Haus, das vierhundert Jahre alt ist. Der Besitzer kennt die Geschichte seiner Bewohner. Er kann sie nacherzählen. Er ist hier aufgewachsen. Jetzt bildet das Haus seine letzte Heimstatt. Auf diese Weise sieht er sich eingebettet in eine Folge der Geschlechter: „Dies Haus ist mein und doch nicht mein ...“ „Ich bin Genfer“, sagt Guillaume Chenevière. „Und Kalvinist. Das Faktum lässt sich nicht abstreifen. Ich stehe dazu.“

 

Der Grossvater war Pfarrer. Er hätte Guillaume gern als Theologen gesehen. Wenn er’s geworden wäre, hätte sich die Genfer Kirche nicht geleert. Immerhin – die Liebe zum Wort (wenn auch nicht zum Wort Gottes, so doch zum Wort der Dichter) hat ihn nie verlassen. Noch heute liest er, wie Gide, seine Bücher mit lauter Stimme: „Man erkennt dabei, dass Rousseau nicht nur Philosoph war, sondern auch Poet. Eine seltene Doppelbegabung.“

 

Der Vater war Chefredaktor der Tageszeitung „La Suisse“; war also oft abwesend. Und die Mutter war tot. In dieser Lage wuchs der Junge mit Büchern auf. Bis dreizehn hatte er den gesamten Walter Scott gelesen (etwa 23 Bände, und erst wie viele tausend Seiten!). Dann alle Shakespeare-Stücke (etwa 37 Titel, und erst wie viele tausend Seiten!). In ihnen erfuhr Guillaume Chenevière, was Leben heisst.

 

Dieses Leben nun hat er in allem, was er schrieb, anregte und tat, erforscht. Bei den Proben im Théâtre de Carouge ging es ihm ums Suchen, Spüren, Fühlen, Ausprobieren, bis zum Punkt, wo alle merkten: „Es lebt!“ Im Grand Théâtre de Genève realisierte Guillaume Chenevière die epochale Aufführung von Dürrenmatts Wiedertäufer-Drama „Es steht geschrieben“ mit achtzig Schauspielern der vereinigten Genfer Bühnen. Und dann, 1967/68, erfolgte die Einladung des „Living Theatre“ aus New York mit „Paradise Now“. Begleitet wurden die Aufführungen von einem nie gesehenen Polizeiaufgebot. Das Gastspiel jedoch verlief ohne Zwischenfälle.

 

Im Umgang mit den „arts vivants“ erkannte Guillaume Chenevière: „Leben ist für das Ich gleichbedeutend mit Geliebtwerden“. Das konstatierte Sigmund Freud. Und das erfuhr auch Guillaume Chenevière in den Gesprächen mit seiner schizophrenen Schwester, in welche sich zuweilen eine dritte Stimme mischte, und im Kontakt mit der jüngsten Tochter, deren Seelenleben ebenfalls anders organisiert ist als bei den Normalen. Für Guillaume Chenevière bedeutete der Austausch mit den beiden Einblick in andere Welten; Bereicherung.

 

Wo so vieles geschehen ist und so vieles zur Sprache kommen will, gestaltet sich die Begegnung zum Wirbel. Guillaume Chenevière reisst den Gesprächszeugen mit sich fort und überfliegt hundert ferne, faszinierende Gegenden mit traumartiger Geschwindigkeit. Der Interviewer Charles Sigel kommt kaum nach. Ab und zu wirft er Namen ein, die den Fluss der Rede ins Stocken bringen, und tastend versucht er, für das Phänomen Chenevière Etiketten zu finden. Dabei müsste er das Gespräch einfach laufen lassen und sich mit der Einsicht begnügen, die Walther Killy (in anderem Zusammenhang freilich) zum Fazit führte: „Durch kein Zauberwort lässt sich die Fülle solchen Geisteslebens auf Flaschen ziehen.“

 

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