Jean-Claude Hesselbarth: Maler.

29. März 1925 – 13. Mai 2015.

 

Aufgenommen am 27. Mai 2003 in Lausanne.

Jean-Claude Hesselbarth – Association Plans Fixes

 

> Für die Aufnahme mit den „Plans Fixes“ hat sich Jean-Claude Hesselbarth einen anstrengenden Weg vorgenommen, der durch zerklüftete, schaurige Gegenden führt. In ihnen bückt der Maler den Kopf und verdoppelt die Anstrengung. Darauf hält er inne: „Wo wollte ich hin?“ Er passt höllisch auf, den richtigen Fuss vor den andern zu setzen. Denn diesmal will er nicht fehlgehen: „Von der Nummer 19 zur Nummer 29 sind es … mehr als drei Häuser. Stimmt.“ Der schwere, anforderungsreiche Weg, den Jean-Claude Hesselbarth gewählt hat, ist der Weg zu sich selbst. <

 

Das Gespräch erfolgt in Jean-Claude Hesselbarths Atelier an der Rue de Bourg 29 in Lausanne. Fünfundzwanzig Jahre hat er darin gearbeitet. „Im über­nächsten Stock ist noch einmal ein Zimmer mit Sachen von mir.“ Doch nun wurden ihm die Lokalitäten gekündigt. In ein paar Wochen muss er ausziehen. „Sie sehen lauter Ruinen“, sagt der 78-jährige Künstler zum Filmteam: „Mich, die Räume ...“ Und das ist es, worüber er Rechenschaft ablegen will: Warum sich bei ihm die Sachen nicht gerundet haben.

 

Jean-Claude Hesselbarths Welt ist eng bemessen: Unten das Atelier, wo er malt, oben das Zimmer, wo er zeichnet. Fünf Häuser weiter, in der Nummer 19, ist er aufgewachsen. Angeregt vom Befrager Eric Burnand hebt er an, die Sesshaftigkeit pseudo-philosophisch zu begründen: Das Verhältnis von Heimat und Fremde ... das Weggehen und Zurückkommen … die Enttäuschung, jedesmal, wenn er die Rue de Bourg wiederfindet ... diese Enttäuschung ... also, letzten Endes ist es die Angst, die ihn zum Bleiben zwingt. „Ja. Die Angst.“

 

Gleich verwickelt sind die Familienverhältnisse. Während siebzehn Minuten, einem Drittel des Films, hat Jean-Claude Hesselbarth schon versucht, sie zu erklären, und immer noch ist der Knäuel unentwirrt. Der Knoten liegt in ihm, nicht in den Verhältnissen. Die sind an sich klar: Der Vater, ein eingewan­derter Deutscher, betreibt an der Rue de Bourg 19 ein Uhrengeschäft. Er hat eine Einheimische geheiratet, Zahnarztstochter. Das Paar bekommt zwei Töchter, dann einen Sohn. Als der fünf Jahre alt ist, bricht die Wirtschafts­krise aus. Das Geschäft läuft auf den Konkurs zu. Vor lauter Sorgen wird der Vater depressiv. Jean-Claude spürt ihn nicht mehr.

 

Die Familie muss in der Villa des Zahnarzts, also des Grossvaters, Zuflucht suchen. Dem geht es gut. Er hat eine Erfindung gemacht. Er ist wohlhabend. Doch dann stirbt die Grossmutter. Der Schmerz wirft den Grossvater um. Er verlässt das Bett nicht mehr. Nimmt fünfzig unterschiedliche Pillen pro Tag. Nachts ist er schlaflos. Raucht eine schwarze italienische Zigarre nach der andern. Neben den Toscani inhaliert er die Dämpfe des Desinfektionsmittels Formol, welches bei Leichenöffnungen zur Anwendung kommt. Da der alte Mann das nächtliche Alleinsein nicht erträgt, muss Jean-Claude neben ihm schlafen – im Bett der Grossmutter.

 

Am Collège trägt der Zwölfjährige die abgeänderten Kleider des Grossvaters. Weil sie von einem Freimaurer stammen, sind sie schwarz. Und sie riechen nach Formol. Um vor den Kameraden seine seltsame Erscheinung zu rechtfertigen, flunkert ihnen Jean-Claude vor, er arbeite nach der Schule an Beerdi­gungen als Statist. Zu seinem Erstaunen nehmen ihm das alle ab, gleich wie sie auch glauben, er sei ein fröhlicher Kerl. „Dabei war die Lebenslust nur vorge­täuscht. Ich habe zeitlebens eine Maske getragen. Auch du“, sagt der 78-jährige Maler zu seinem Befrager, „hast du mich nie so gekannt, wie ich wirklich bin“.

 

In Jean-Claudes Seele gesellt sich zur Last von Vater und Grossvater noch der Mythos des genialen Onkels, der mit 25 Jahren innert dreier Tage dem Krupp erlegen ist. Der früh Dahingegange hat durch sein gestalterisches Talent Aufsehen erregt, zuerst in Lausanne, dann in Paris, und man hat ihm die glänzendsten Aussichten gegeben: Eine Mischung aus Picasso und Rodin schien sich anzukündigen. Der Tod hat das Versprechen, das mit dem jungen Genie ans Licht getreten war, ins Unermessliche gehoben. Im Vergleich mit ihm erscheint Jean-Claudes Begabung bestenfalls mittelmässig.

 

Aus diesem Grund wird er nun zu einem Künstler ohne Selbstvertrauen. Seine Trauer aber verbirgt er hinter Aufgeräumtheit und Dauerwitzeleien, und die Leute tun so, als fielen sie auf diese Maske herein. Damit ist Jean-Claude Hesselbarths Leben von Spaltung gezeichnet. Nichts tut er lieber als zeichnen und malen, und nichts weniger gern als ausstellen, Gesellschaft haben und Feste feiern.

 

Aus der Kunst bezieht er seine Kraft. Sie macht ihn glücklich. Dabei entspricht für ihn das Zeichnen dem Gebet. Beim Bewegen des Bleistifts kommt er zur Ruhe. „An sich könnte ich stricheln, bis das Blatt schwarz ist. Aber wer kauft schon ein schwarzes Blatt?“ Anders das Malen. Der Umgang mit den Farben heitert ihn auf. „Wenn jemand an Blutleere leidet, nimmt er Früchte zu sich, Zitronen, Orangen. Und so verwende ich für meine Seele starke, leuchtende Farben: Orange, gelb, rot ...“

 

Aber da ist die Spaltung: „Solange ich male oder zeichne, bin ich glücklich. Doch wenn die Sachen fertig sind, kommen sie mir missraten vor. Ich kann nicht zu ihnen stehen. Und warum? Weil ich nicht zu mir selber stehen kann. Ich leide am Hochstapler-Syndrom. Ja. Jetzt ist’s heraus.“

 

Manche Menschen sind offenbar unfähig, an ihre eigene Leistung zu glauben, vielmehr sind sie eher davon überzeugt, ihre Erfolge durch Beziehungen oder Glück erreicht zu haben, nicht aber auf Grund ihrer Fähigkeiten. Sie halten sich also für kognitive Hochstapler und fürchten, ihre vermeintlich wahre und geringe Leistungsfähigkeit könnte schon bald enttarnt werden. Man vermutet, dass hinter dem Syndrom negative Kindheitserfahrungen stehen, wenn die Betroffenen etwa im Elternhaus gelernt haben, dass sie nur geliebt werden, wenn sie permanent hohe Leistungen erzielen. Charakteristisch für Menschen mit dem Impostor-Phänomen sind allerdings auch eine überdimensionierte Vorstellung von Kompetenz und grosse Furcht vor negativer Kritik.

 

Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik

 

In der Nacht vor einer Vernissage träumt Jean-Claude Hesselbarth regelmässig, er komme ins Lokal, und die Wände seien leer. Oder es würden dort die Werke eines Kollegen hängen. Oder er begebe sich an die falsche Adresse. Und wenn dann die Kritiken erscheinen, ist der Erfolg kümmerlich. „Darum habe ich mich hinter der Architektur versteckt. Kunst am Bau, das ist bescheidener. Das entspricht mir.“

 

Ein paar Wochen bevor er das Atelier aufgibt, benützt Jean-Claude Hesselbarth jetzt die „Plans Fixes“ zur Lebensbeichte. Die Welt soll endlich wissen, wie es in ihm aussieht. Damit wird sein Porträt zu etwas vom Ergreifendsten, das die Sammlung zu bieten hat. Es bringt nicht eine Leistung, auf die jemand zurückblickt, sondern einen Prozess im Hier und Jetzt: Den schweren, anforderungsreichen Weg eines Menschen zu sich selbst.

 

 

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