Georges Nivat: Auf russisch träumen.

11. Mai 1935 –

 

Aufgenommen am 13. Januar 2011 in Esery (F).

Georges Nivat – Association Plans Fixes

 

> Wenn Eric Ambler ihm begegnet wäre, hätte er möglicherweise Georges Nivat für einen seiner düsteren Agentenromane, die im kalten Krieg spielen, verwendet. Der brillante junge Mann, wie seine Eltern an der französischen Elitehochschule Ecole Normale Supérieure ausgebildet, kam im Alter von 21 Jahren an die Moskauer Lomonossow-Universität und begegnete bald den wichtigsten Köpfen der russischen Dichterwelt – aufmerksam verfolgt vom KGB. <

 

Russisch ist dem jungen Franzosen mit zwanzig zur ersten Sprache geworden: „Sie ist ungemein warm und legt sich mit ihren vielen Diminutiven mütterlich ums Gemüt wie ein Mantel. In ihr vereinigen sich gleichzeitig Roheit und Herzensgüte – oder vielmehr: Herzensgüte und Roheit“, erklärt der 73-jährige emeritierte Professor für Slawistik an der Universität Genf. Im Lauf seiner Tätigkeit als Wissenschafter und Übersetzer ist er den wichtigsten Autoren begegnet, in ihrem Heimatland und im Exil, und er hat, als teilnehmender Beobachter, ihre Geschicke mitvollzogen.

 

Am Genfersee lud ihn Vladimir Nabokov zu Gesprächen ins Montreux-Palace ein, wo er, zusammen mit der Frau, von 1961 bis zu seinem Tod 1977 eingemietet war. Und als Alexander Solschenizyn in Cavendish (Vermont) vernahm, dass Georges Nivat 1985/86 während eines Sabbaticals am Russian Research Center der Universität Harvard forsche, forderte ihn der Nobelpreisträger zum Besuch auf; es seien nur 200 Meilen; also keine Distanz für amerikanische und russische Verhältnisse.

 

Georges Nivat hatte damals Solschenizyn bereits übersetzt und auch interpretiert. Nun bekam er an Ort und Stelle mit, wie der Dichter an seinem monumentalen Romanepos „Krasnoe koleso“ (deutsch „Das rote Rad“) arbeitete. 14 Stunden pro Tag verbrachte er abgesondert von Welt und Familie in einem eigenen Haus. Da zeichnete er den Untergang des alten Russland nach. Der Zyklus war zuerst auf 24, dann 20 Bände angelegt. Er sollte vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis in die Jahre nach der Revolution laufen. Doch Lebenszeit und Lebenskraft erlaubten es Solschenizyn nur, sechs Bände fertigzustellen.

 

In die Nähe der Giganten kam Georges Nivat nicht bloss wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch, weil er seit den Moskauer Aufenthalten sozusagen zur Familie gehörte. Er hatte er sich mit Irina Emelianova, der Tochter von Boris Pasternaks Lebensgefährtin, verlobt. Selbstverständlich begegnete er deshalb auch dem Dichter von „Doktor Schiwago“ und führte mit ihm lange Gespräche. Den Roman, erzählt er bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“, habe er fünfzehnmal gelesen.

 

Doch dann passierte Georges Nivat dasselbe wie Solschenyzin: Eine Wundrose brachte ihn ins Spital. Es handelt sich bei dieser Krankheit, wie der Brockhaus weiss, um „eine akute, durch Streptokokken hervorgerufene Entzündung der Haut und des Unterhautzellgewebes. Eintrittspforte der Erreger sind Wunden oder Verletzungen geringfügiger Art. Nach einer Inkubationszeit von einigen Stunden bis Tagen kommt es zu hohem Fieber, Schüttelfrost und schmerzhaften, scharf begrenzten, bogenförmig oder flammenartig verlaufenden Hautrötungen mit Schwellung, Blasenbildung oder Nekrose.“

 

Die Ursache? „Der bulgarische Regenschirm!“, vermutet Charles Sigel, der Interviewer, und Georges Nivat nickt. Als er aus dem Spital zurückkam, wurde er unverzüglich aus der Sowjetunion ausgewiesen – zwei Tage vor der Hochzeit mit Irina Emelianova. Die Braut und ihre Mutter aber verschwanden in einem Lager. Georges Nivat hörte nichts mehr von ihnen. Von Paris aus konnte er ihnen noch Pakete schicken, jedoch keine Briefe. Fünf Jahre später heiratete Georges Nivat die Französin Lucile Jonac, eine Russisch-Dozentin.

 

Während man dem Gespräch folgt, bei dem viele Personen und Orte zur Erwähnung kommen (Georges Nivat hat sein Slawistik-Studium auch in Oxford betrieben und an der Sorbonne je ein Lizenziat in Slawistik und Anglistik erworben), geht es einem wie dem rumänischen Schriftsteller Panäit Istrati. In seinem Romanwerk „Die Jugend von Adrien Zograffi“ beschreibt er ein Wörterbuch, den „Dictionar Universal al Limbei Romane, de Lazar Seineanu“:

 

Dieser [Lazar] Seineanu ist neben H. Tiktin und Dr. Gaster einer der drei jüdischen Professoren, denen Rumänien die Grundlagen seiner Philologie verdankt: alle drei jetzt [1928] unfreiwillig im Exil; doch alle drei fahren auch heute noch fort – der erste in Paris, der zweite in Berlin, der dritte in London –, glorreich im unschätzbaren und bisher unbekannten Boden unserer nationalen Folklore zu graben und sie der weltweiten Wissenschaftsgemeinde zu offenbaren.

 

Beim Durchstöbern des rumänischen Lexikons erkennt der Erzähler in seiner ungeheizten, ärmlichen Kammer:

 

Jede Seite enthielt eine Welt des Wissens; jedes Wort eröffnete mir Horizonte, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, und ich glitt von einem halb bekannten historischen Ereignis zu einem, das mir völlig unbekannt war, von einer Biographie, die mich in Erstaunen versetzte, zu einer anderen, die mir Tränen in die Augen trieb ...

 

So geht es einem nun bei der Begegnung mit Georges Nivat. Er steht auf einer Leiter in seiner Bibliothek. Ihm gegenüber, ebenfalls auf einer Leiter, Charles Sigel, der Interviewer. „Wie viele Bücher haben Sie?“ „Ich habe sie nicht gezählt; doch gewiss mehr als fünfzehntausend. Die Mehrzahl von ihnen russisch.“ „Und wie viele haben Sie selber geschrieben?“ „Vielleicht gut zwanzig ...“

 

Was der 73-jährige Gelehrte in diesem Moment aus Bescheidenheit verschweigt, hat der 34-jährige Nietzsche unter dem Titel „Freude im Alter“ prophetisch ausgesprochen:

 

Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser leer ist und alle Schätze gerettet sind.

 

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