Jacques Pilet: Journalist und Staatsbürger.

18. Oktober 1943 –

 

Aufgenommen am 9. Dezember 2018 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/jacques-pilet/

 

> Im Westschweizer Journalismus ist Jacques Pilet eine der wichtigsten Figuren. Er schuf Titel, um die man seinerzeit nicht herumkam: «L‘Hebdo» zunächst, ein wöchentliches Nachrichtenmagazin (es mischte, wie man damals sagte, «die Politszene auf»), und «Le Nouveau Quotidien», eine Tageszeitung mit hohen Ansprüchen an journalistische Qualität und Debattenkultur. <

 

Wenn «Der Spiegel» seinen Mitarbeitern die langen Einleitungen mit der Devise austrieb: «Mit der Tür ins Haus fallen!», so realisiert das Gespräch mit Jacques Pilet in den «Plans Fixes» diese Forderung blendend. Kaum darf der Angesprochene die erste Frage aufnehmen, sind wir mittendrin im Nachkriegsdeutschland, das der Gymnasiast aus Montreux in Göttingen als Gast einer Pastorenfamilie kennenlernt. 

 

Und gleich führt Jacques Pilet vor, was gutes Erzählen ausmacht: Abwechslung zwischen (Selbst-)Erlebtem und (Selbst-)Gedachtem; lebendige Stimmführung; emotionale Beteiligung; Sinn fürs Wesentliche und das sprechende Detail; Hervorrufung von Situationen und Menschen, indem man sie zum Reden bringt.

 

So zitiert der 75jährige den rührenden Tonfall der Pfarrersfrau, die sich nach Ankündigung der deutsch-französischen Freundschaft durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer an den Jungen wandte: «Jacques, glaubst du, dass das möglich ist?»

 

Ebenso spannend, weil unmittelbar, packt die Begegnung mit General Pinochet in Chile, gleich nach dem Putsch. Der Journalist der Waadtländer Tageszeitung «24 Heures» sprang damals mit einer Fotografin (seiner Frau) ins nächste Flugzeug und begab sich ins Zentrum des Geschehens. Er folgte damit nicht bloss der Reporterpflicht, sich der Wirklichkeit auszusetzen und sich ein eigenes Bild zu machen, sondern er realisierte auch Goethes Maxime: «Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick!» Dieses «Da-Sein» im «Augenblick» aber macht die Faszination des Berufs aus.

 

Das Erlebnis der Unmittelbarkeit teilt der Journalist mit Lehrern und Psychotherapeuten, und er hat auch, wenn er sich ans Schreiben und Reflektieren macht, etwas von beiden: Es geht darum, Sachverhalte zu verstehen, indem man sie in eine Sprache fasst, die weiter wirkt. Aber im Unterschied zu den «Betroffenen» steht der Journalist – wie auch der Lehrer und der Psychotherapeut – nicht nur «in» der Situation, sondern auch «darüber».

 

Bei Jacques Pilet äussert sich dies freie (und befreiende) Hinschauen als übersprudelnde Freude. Mit ihr signalisiert er Unerschrockenheit, und mit ihr reisst er seine Hörer mit. Die Psychologin Annemarie Häberlin fasste den Vorgang, Nietzsche zitierend, in die Formel: «Das, wofür wir Worte haben, darüber sind wir schon hinaus.»

 

Auf diese Weise steht der Journalist, wie es die Berufsbezeichnung ausdrückt, voll im Tag. Der Tag aber gleicht einem Dampfer, der sich durch einen endlosen Ozean bewegt, ohne sein Ziel zu kennen. Dabei entsprechen die Journalisten den Möwen, die mit ihrem Geschrei das Schiff begleiten. Sie nähren sich von den Brocken, die ihnen von den Passagieren zugeworfen werden. Manchmal stechen sie auch herunter und reissen aus verborgener Stelle etwas hervor, das ihnen nicht zugedacht war.

 

Mit der Beute fliegen sie dann hoch und lassen sie in der Sonne aufblitzen. Der Kenner bewundert die Eleganz ihrer Flugbewegungen und die Kühnheit der Futtersuche, während der Deckoffizier schimpft und die Hände verwirft. Manchmal bekommen Mannschaft und Unschuldige einen Spritzer von oben ab. Dann werden die Möwen als Schmutzfinken beschimpft.

 

Wenn man Jacques Pilet beim Erzählen zuhört, begreift man, warum er ein Leben lang nichts anderes betrieb als Journalismus. Der Film erklärt jedoch nicht, wie er es schaffte, Titel zu gründen und Redaktionen zu führen, kurz, immer an der Spitze zu stehen. Er spricht wohl von «Team». Er aber – war Team-Chef. Und das ist etwas anderes: Leadership.

 

Die Qualitäten, die dazu erforderlich sind, bringt Pilet nicht zur Sprache. Sie verraten sich aber am unteren Bildrand. Da enthüllt die Kamera ab und zu, dass Jacques Pilet während der ganzen Aufnahme die Beine in einer angewinkelten Position hält. Die Körpersprachler Allan und Barbara Pease nennen sie «The American Figure Four», weil, von oben her gesehen, die Beinstellung einer 4 gleicht. Und «amerikanisch» ist diese Haltung, weil sie, wie die Autoren erklären, von amerikanischen (bzw. von der amerikanischen Kultur beeinflussten) Männern dazu verwendet wird, ihr Genitale zur Geltung zu bringen. Und da gilt: «Bei allen Primaten wird das Männchen mit der eindrucksvollsten Darstellung von den anderen als Sieger angesehen.»

 

Die Folge ist, und der Film zeigt das deutlich: «Männer, die so sitzen, werden nicht nur als dominant, sondern auch als entspannt und jugendlich empfunden.» Die Haltung kommt den Leadern zugute. Sie müssen ja in einem kontroversiellen Umfeld eine Linie nicht bloss vorgeben, sondern auch durchziehen. Dazu braucht es Unbeirrbarkeit – mit all ihren Vor- und Nachteilen. Deshalb sagen Allan und Barbara Pease dazu: «Die Körperhaltung ist ein Zeichen des hartnäckigen, eigensinnigen Individuums, das jede andere Meinung als seine eigene ablehnt.»

 

Glücklicherweise gibt es Tricks, Menschen von der «American Figure Four» abzubringen: «Wenn Sie mit jemandem verhandeln, der in einer dieser geschlossenen Positionen sitzt, sollten Sie versuchen, ihn dazu zu bringen, Arme und Beine loszukreuzen, bevor Sie weitermachen. Wenn Sie etwas zu zeigen haben, laden Sie ihn ein, neben Sie zu sitzen, oder geben Sie ihm Dinge zu tun oder zu halten, so dass er sich vorbeugen muss, um Notizen zu schreiben oder Broschüren und Muster zu halten. Auch das Anbieten von Tee oder Kaffee funktioniert gut, da es das Überkreuzen der Arme und Beine erschwert, weil man anders nicht trinken kann, ohne sich zu verbrennen.»

 

Vielleicht haben die Mitarbeiter von Jacques Pilet diese Strategie gekannt. Oder das Klima in den Redaktionen war so entspannt, dass es niemand nötig hatte, eine Barrierehaltung einzunehmen, nicht einmal der Chef. Träumen darf man.

 

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