Renée Delafontaine: Erzieherin.

29. Januar 1921 – 16. März 2006.

 

Aufgenommen am 7. April 1993 in Puidoux, Mont-Chervet.

Renée Delafontaine – Association Plans Fixes

 

> Wenn man beim Betrachten des Films den Ton abstellt und nur noch schaut, wie Renée Delafontaine spricht, tritt die reine Güte der 72-jährigen überwältigend hervor. Und wenn man das Bild stoppt, liegt über den belebten, aber angehaltenen Gesichtszügen ein Glanz, der zwar von innen kommt und doch nicht von dieser Welt ist. So erfährt man an der Begegnung mit der Erzieherin, wie umfassend das wahre Leben ist. <

 

Die „Plans Fixes“ beginnen mit einer Aussenaufnahme. Eine schöne alte Frau schichtet Holz in einen geflochtenen Korb. Um ihren Rock streicht eine Katze mit erhobenem Schwanz und will gestreichelt werden. Dann läuft sie zufrieden davon. Nun trägt die Frau das Holz durch einen Bauerngarten. In der Stille singen die Vögel. Der Wind bewegt dürre, mit einzelnen Knospen besetzte Zweige. Am Haus führt eine hölzerne Tür ins Innere, und das heisst: an die Wärme.

 

Die Wärme geht von der 72-jährigen Erzieherin Renée Delafontaine aus. Sie hat in der Natur, in Feld und Garten, im Bauernhaus, in dem sie zur Welt gekommen und aufgewachsen ist und jetzt den Kreis ihrer Tage beschliesst, Gelassenheit gelernt. Ihre Eltern schon, beide Halbwaisen, der Vater zudem durch eine Hasenscharte verunstaltet, die ihn vom Studieren abhielt und ans Anwesen band, lernten durch „Sublimation“, wie Renée Delafontaine sagt, mit ihren Einschränkungen zurechtzukommen nach dem Paulus-Wort: „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2. Kor. 12, 10)

 

Die Erfahrung, dass die Mitte der Nacht der Anfang des Tages ist und dass sich im Winter das neue Jahr vorbereitet, hat Renée Delafontaine durch all ihre Unternehmungen hindurchgetragen. Nicht ganz überraschend deckt sich der bäuerliche Wirklichkeitssinn, den sie von den Eltern und der Natur mitbekommen hat, mit der Auffassung des Basler Philosophieprofessors Paul Häberlin:

 

Wer das Leben meistern will, der muss sich von vornherein dies eine ganz klarmachen: dass seine Probleme niemals endgültig gelöst werden können. Lebensprobleme sind lebendige Probleme. Sie erneuern sich mit jedem Schritt, und jede Lösung muss notwendigerweise den Ausgangspunkt für neue Schwierigkeiten bilden. Das Leben ist Bewegung, und solange wir leben, können wir mit dem Leben niemals „fertig“ sein.

 

Darauf müssen wir uns von vornherein einstellen. Wir müssen gewillt und bereit sein, jeden Tag neu anzufangen. Wir müssen lernen, es als ganz selbstverständlich anzusehen, dass das Leben seiner Natur nach, als Ganzes und in jedem Augenblick, problemhaltig ist, und wir müssen uns abgewöhnen, darüber immer wieder erstaunt oder gar entrüstet zu sein. Das Leben ist nun einmal keine Schulaufgabe, die man mehr oder weniger gelegentlich oder flüchtig erledigen könnte, um dann „frei“ zu sein. Wen das Leben hat, den lässt es nicht mehr frei, bis zum Tode.

 

Renée Delafontaine folgt ihrer Berufung. Als Erzieherin wendet sie sich den geistig Behinderten zu, obwohl sich mit ihnen die Fortschritte viel, viel langsamer ergeben. „Aber ich bin selber langsam“, erklärt sie. „Und gern lasse den Dingen die Zeit, die sie brauchen.“ Die Basis für diese Gelassenheit findet sich bei Häberlin: „Erziehung arbeitet im Vertrauen darauf, dass nichts verloren sein kann, was in Liebe geschieht.“

 

Für den Umgang mit Menschen ist Hochmut schädlich. Gefragt ist vielmehr Sensibilität für das Geschehen zwischen dir und mir. Ist sie vorhanden, wird das pädagogische Verhältnis reziprok. Häberlin:

 

Jeder ist jedes andern Erzieher; Erziehung ist, ihrem Sinne nach, nicht einseitige Einwirkung. Sie ist ein zwischen den Partnern oszillierender Prozess. Dies auch dann, wenn die beiden Partner auf verschiedenen Stufen vitaler oder geistiger Entwicklung stehen.

 

Dasselbe sagt, nicht ganz überraschend, Renée Delafontaine im Film. Und deckungsgleich mit ihren Ausführungen findet sich wiederum beim Basler Philosophieprofessor die Aussage:

 

Jeder ist zu etwas da, und jeder ist in der Unvollkommenheit da. Es ist eine kindische Haltung, gegen die Unvollkommenheit der äussern Welt zu protestieren; es ist aber nicht minder kleinlich und kindisch, über die eigene Unvollkommenheit nur immer zu murren und darin zu verzweifeln.

 

Nicht die tatsächliche oder mögliche Vollkommenheit macht ein Leben lebenswert oder gut, sondern die nie erlahmende Entscheidung für das Gute und gegen das Böse.

 

1954 eröffnet Renée Delafontaine in Lausanne das erste Schweizer Externat für geistig behinderte Kinder, später für Jugendliche und Erwachsene. „Erziehen heisst: das Kind im Kampf um sein Bestes zu unterstützen“, sagt dazu Häberlin. Das ist aber nur möglich durch Aufrichtigkeit. Übereinstimmend erklären die Erzieherin und der Erziehungstheoretiker:

 

Wahrhaftigkeit ist die notwendige Voraussetzung jedes fruchtbringenden pädagogischen Verkehrs. Die kleinste Verfälschung, die kleinste Unehrlichkeit trübt das Verhältnis zwischen Erzieher und Kind.

 

Nach meiner Meinung erzieht der Mensch am besten, der am ehrlichsten zu seiner Unvollkommenheit steht, denn er hat das für das Zustandekommen der pädagogischen Situation unbedingt notwendige menschliche Verhältnis zu den Kindern.

 

Am Tisch mit den schön bemalten Kaffeetassen beugt sich Renée Delafontaine vor und blickt in die Kamera. Sie spricht von ihren Unvollkommenheiten. Und dass ihr aufging: „Wir Erwachsenen werden im gleichen Masse gefährlich, als es uns gelingt, uns gegen den autonomen Sinn des Daseins unserer Kinder durchzusetzen. Wir stören dann ihre ‚naturgemässe‘ Lebensgestaltung.“ (Häberlin)

 

Die Erzieherin hält ein Blatt in die Höhe, auf dem ein zwölfjähriges, geistig behindertes Mädchen Blumen gezeichnet hat. Vier Jahre lang hat die Schule versucht, ihm das Schreiben beizubringen: „Und nun schauen Sie auf die ungelenken Striche! Die Stengel schweben in der Luft! Sie haben keine Wurzeln!“ Für Renée Delafontaine aber ist Verwurzelung elementar.

 

Man muss versuchen, die Kinder von ihnen her zu verstehen. Und zwar schrittweise, von Fall zu Fall, ohne abschliessende Ansichten oder gar „Theorien“. Denn dies ist nun wichtig: Das Verstehen ist nie zuende, weil es nie vollkommen ist. (Häberlin)

 

Und doch ist es mit Liebe und Intuition allein nicht getan, sagt Renée Delafontaine. Ohne Kenntnis der Neurologie kann man irreparablen Schaden anrichten. Als sie das erkannte, unterbrach sie ihre Tätigkeit für zwei Jahre und ging nach Genf, um bei André Rey weiterzustudieren, einem Pionier in klinischer Psychologie, Kinderpsychologie und Neuropsychologie.

 

Auf dieser Basis entfaltete sich dann ihr Lebenswerk, sagt das Historische Lexikon der Schweiz. Es stützte sich auf die tägliche Begleitung der Behinderten, sei jedoch „mit soliden theoretischen Kenntnissen gekoppelt“ gewesen und habe „dem Verständnis und der Behandlung zerebral gelähmter Menschen grosse Dienste erwiesen“. Renée Delafontaine wurde für ihr Wirken und ihre Publikationen von der Universität Lausanne mit dem Dr. h.c. ausgezeichnet.

 

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