Pilar Ayuso: Eingewanderte Aktivistin.

2. Februar 1943 –

 

Aufgenommen am 6. September 2004 in Genf.

Pilar Ayuso – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Als Pilar Ayuso 1969 von Spanien her in die Schweiz einwanderte, war „Selbstbestimmung“ das Modewort. Aber für sie und ihresgleichen galt es nicht. Denn sie und ihresgleichen waren bloss Arbeitskräfte. Fremdarbeiter. Saisonniers. Einmal den Dienst geleistet, hiess es abfahren. Zurück ins Herkunftsland. Dass Pilar Ayuso trotzdem in der Schweiz blieb, wo sie das Telefonverzeichnis noch heute nachweist, ergab sich so. Von Selbstbestim­mung konnte keine Rede sein. Aber Sinn hatte ihr Leben gleichwohl. <

 

Als zweitletztes von acht Kindern kam Pilar Ayuso in Spanien zur Welt. Da lautete die Parole nicht „Selbstentfaltung“, sondern „Anpassung“. Sie galt für das Leben in der Familie und im Staat. Diktator Franco bestimmte die Geschicke. Mädchen wurden zu Müttern und Gattinnen abgerichtet. Pilar kam in eine Schule, wo sie lernte, im Haus zu bleiben und Kinder aufzuziehen. Mit dieser Ausbildung trat sie in den Dienst eines französischen Ehepaars.

 

Als das in die Schweiz zog, nach Versoix, in der Nähe von Genf, nutzte Pilar die Möglichkeit, ihm zu folgen. Sie blieb damit bei einem Arbeitgeber, der sie schon kannte und schätzte. Gleichwohl musste sie sich beim Grenzübertritt, im selben Raum mit vierzig anderen Frauen, für die sanitarische Musterung nackt ausziehen. Diese entwürdigende Art von Viehschau bedeutete für die prüde junge Frau einen Schock, gleich wie die Bise, die sie beim Eintritt ins Freie mit beissender Kälte überfiel. Das Wort „Willkommenskultur“ war 1969 noch nicht erfunden.

 

Die grossen Zusammenhänge, die damals Pilar Ayusos Leben bestimmten, beschreibt heute in der „Süddeutschen Zeitung“ Claudia Diehl. Als Professorin für Mikrosoziologie beschreibt sie an Deutschland, was mit wenigen Anpas­sun­gen auf die Schweiz übertragbar ist:

 

Auf die Arbeitsmigration der 1950er bis 1970er folgte in den 1980ern eine Konsolidierungsphase: Bei manchen Migranten zogen die Familien nach, andere kehrten zurück. In den 1990ern war Deutschland Ziel vieler Asylbewerber sowie zahlreicher ethnisch deutscher Spätaussiedler. Die ersten beiden Dekaden des neuen Jahrtausends waren zunächst von osteuropäischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten geprägt – und die Jahre seit 2015 auch von zahlreichen Geflüchteten.

 

Häufig wird übersehen: Das Bildungsniveau der Neuzuwanderer ist seit der klassischen Gastarbeitermigration deutlich angestiegen. Der Anteil an akademisch Gebildeten ist bei ihnen schon seit vielen Jahren höher als unter Deutschen. Gleiches gilt allerdings auch für den Anteil an Personen mit geringer Bildung; das mittlere Qualifikationssegment ist deutlich dünner besetzt. Vergleicht man die heterogene Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund mit den Einheimischen, so zeigen sich ausgeprägte Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt: Migranten sind seltener auf dem Arbeitsmarkt aktiv und häufiger arbeitslos, haben einen geringeren beruflichen Status, verdienen weniger und finden seltener einen Ausbildungsplatz.

 

Die oben beschriebenen Verhältnisse haben Pilar Ayusos Werdegang mehrfach geprägt. Als Arbeitsmigrantin blieb sie ohne Berufsabschluss. In der Schweiz musste sie sich mit schlecht bezahlten, prestigearmen Jobs durchbringen: als Hausmädchen zuerst, dann als Arbeitskraft in einer chemischen Reinigung. Doch am Feierabend begann sie ein zweites Leben.

 

Ihr war aufgegangen, dass sie die Landessprache lernen müsse. So besuchte sie zweimal in der Woche Französischkurse, und an zwei weiteren Abenden Bildungskurse für Ausländer. Um näher an Genf zu sein, wo diese Angebote stattfanden, kündigte sie ihre Stellung in Versoix und suchte sich Arbeit im nahegelegenen Frankreich. Die repetitive Tätigkeit an der Bügelmaschine erlaubte es ihr, in der Arbeitszeit das Gelernte und Erfahrene zu bedenken, zu vertiefen und zum Aufbau eigener Folgerungen zu verwen­den.

 

Die Erkenntnisse führten Pilar Ayuso zum Anschluss an die spanische Diaspora in Genf, zur Beschäftigung mit gewerkschaftlichen und sozialen Fragen und schliesslich zur Politisierung. Es war ein Learning by doing. Indem sie ihren Landsleuten half, zu ihrem Recht zu kommen, lernte sie aus den Behördenantworten mit der Zeit das schweizerische Ausländerrecht mit seinen kantonalen Besonderheiten aus dem Effeff kennen. „Das war meine Universität“, sagt die 61-jährige nun bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“.

 

Immer noch ehrenamtlich und immer noch in der Freizeit beteiligte sich Pilar Ayuso an der Schaffung des Centre de Contact Suisses-Immigrés (CCSI). 1974 gegründet, nahm es jene Gegebenheiten ins Visier, welche die Gesellschaft bis heute prägen. Nochmals Claudia Diehl:

 

In dieser Diskussion kommt häufig zu kurz, dass ethnische Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt vor allem die ungleichen Startvoraussetzungen von Einwanderern und Einheimischen widerspiegelt. Bildungsabschlüsse und berufliche Qualifikationen sind und bleiben aber der wichtigste Prädiktor für den Arbeitsmarkterfolg. Da das Bildungsniveau der Kinder dem der Eltern ähnelt, wird geringe Bildung an die nächste Generation weitergegeben – mit entsprechenden langfristigen Folgen für den beruflichen Werdegang.

 

Dies gilt zwar für gering gebildete Einheimische und Einwanderer gleichermassen, letztere haben aber einen höheren Anteil an gering Gebildeten. Zusätzlich werden aus dem Ausland mitgebrachte Abschlüsse und Qualifikationen in Deutschland oft nicht anerkannt. Auch ist es für Neuankömmlinge aufgrund anderer Netzwerke schwieriger als für deutschstämmige Personen, an Informationen etwa über freie Jobs und die besten Bewerbungsstrategien zu gelangen.

 

Die Wichtigkeit nun, welche die berufliche und soziale Vernetzung zwischen den Ankömmlingen und der aufnehmenden Gesellschaft hat, führte dazu, dass das CCSI nach zehnjähriger Tätigkeit in Genf 1984 als Körperschaft von öffentlichen Nutzen (institution d’utilité publique) anerkannt wurde. Von da an wurde es subventioniert. Das erlaubte es wiederum, Pilar Ayusos Tätigkeit arbeitsrechtlich zu regeln und zu remunerieren. Seither nennt sich die Fachfrau für Ausländerfragen und Ausländerrecht, die ihr Wissen nicht aus einer höheren Schule, sondern aus dem Leben bezogen hat ,im Telefonver­zeichnis Sozialarbeiterin.

 

„Sur le terrain“ hat sie sich im unmittelbaren, menschlichen Kontakt mit den Hilfsbedürftigen dafür eingesetzt, dass „Selbstbestimmung“ für sie ein Ziel bleiben konnte – wenn auch mit den bekannten Einschränkungen. Claudia Diehl:

 

Nicht nur für die Gruppe der Geflüchteten und nicht nur für den Arbeitsmarkt gilt, dass Integration ein langfristiges Projekt darstellt. Erfolge zeichnen sich meist erst nach Jahren oder gar erst in der Folgegeneration ab. Die Einwanderer selbst wissen um diesen Tatbestand, der in dem Credo vieler steckt, die die Mühen einer internationalen Migration auf sich nehmen: „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir.“

 

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