René Berger: Schriftsteller und Kunstkritiker.

29. April 1915 – 29. Januar 2009.

 

Aufgenommen am 9. Juli 1994 in Chevilly.

René Berger – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Höflich verharrt der 79-jährige während der Eingangsfrage in horchender Stellung. Dann läuft ein Ruck durch seinen Körper. Die Hände steigen auf. Das Gesicht belebt sich. Der Flug der Worte, gesteuert von weit ausgreifen­den Armbewegungen, formt Spiralen und Loopings. Man könnte meinen, René Berger beschreibe eine Tinguely-Maschine; doch stellt er nur sein Denken in den Raum. <

 

Der Zuschauer von René Bergers Porträt in den „Plans Fixes“ sitzt auf dem Stuhl wie der Hauptmann bei Georg Büchner, und während er eingeseift wird (Büchner: „Hauptmann auf einem Stuhl; Woyzeck rasiert ihn.“), möchte er immer wieder rufen: „Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern! Er macht mir ganz schwindlig.“

 

René Berger, der vor laufender Kamera mit scharfer Geistesklinge hantiert und akrobatisch alte Bärte abschneidet, provoziert alle fünf Minuten den Einspruch: „Was sagt Er da?“ Stetsfort bringt er Unerwartetes, Verstörendes auf und nötigt zur Frage: „Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort.“

 

Aber René Berger lässt sich nicht vom Kurs abbringen. Am Ende lenkt der Zuschauer ein: „Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch. Aber du denkst zuviel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. – Der Diskurs hat mich ganz angegriffen.“

 

Inhaltlich geht es René Berger darum klarzumachen, dass es höchste Zeit ist, das alte Denken zu verabschieden, welches durch Einteilen der Welt in Wissensgebiete die Phänomene isolierte und die Zusammenhänge zerschnitt. Seiner Meinung nach muss die Unbeweglichkeit von Modellen, Gesetzen und Formeln ersetzt werden durch – sagen wir: biomorphe Konzepte, bei denen Entwicklung und Metamorphose im Zentrum stehen. Die Fachwissenschaften sind nach Berger sklerotisch, und die Institute geprägt von Machtdenken und Byzanti­nismus.

 

In seinem Wunsch nach „Aufbrechen“, was gleichzeitig „öffnen“ und „sich auf den Weg machen“ bedeutet, trifft er sich mit Margret Dietrich, die zur Zeit, wo René Berger als Honorarprofessor an der Universität Lausanne unterrichtete, das theaterwissen­schaftliche Institut der Universität Wien leitete.

 

Auch sie war mit sechzig noch leidenschaftlich dem Neuen zugetan – auf dem Gebiet der Ideen sowieso, aber auch in Bezug auf die Anwendung von Elektronik in Administration und Wissenschaft und in Bezug auf revolutionäre Küchen- und Haushaltgeräte, die sie mit kindlichem Vergnügen zu erproben liebte.

 

Als o. Univ.-Prof. Dr. Margret Dietrich eine Habilitation zu beurteilen hatte, schrieb sie im Begleitbrief an den Kommissionspräsidenten: „Mich ödet im Augenblick so viel Geistloses in der Wissenschaft an, dass ich recht glücklich bin, dass da ein sehr eigenwilliger und geistig Profilierter hörbar wird.“ Das offizielle Schreiben selbst begann sie mit den Worten:

 

Die mir vorgelegte Arbeit ist – ich darf es gleich an den Anfang meines Gutachtens stellen – eine der feinsinnigsten wissenschaftlichen Arbeiten, die mir seit Jahren beschert wurden.

 

Ich weiss, dass manche Wissenschaftler heute – vor allem solche, die sich vorwiegend positivistischen und/oder quantifizierenden Methoden zugewandt haben, mit dem Begriff der Feinsinnigkeit nicht sehr glücklich sein werden. Dennoch ist dieser Art sich ständig reflektierender und argumentierender Forschung heute erneut eine Bedeutung zuzumessen, die angesichts der Mechanisierung und Entper­sönl­i­chung des Forschungsprozesses und Wissenschaftsbetriebs, angesichts der Verödung gelebten Problembewusstseins nicht hoch genug eingestuft werden kann.

 

Es hat mir ein ausgesprochenes Vergnügen bereitet – und einen wissenschaftlichen Genuss (ich setze voraus, dass in dieser begrifflichen Bindung kein Widerspruch gesehen wird) – diese Arbeit zu lesen und dabei immer wieder die nicht mit dem Holzhammer standardisierter Methoden, sondern mit subtiler Hand hergestellten inneren Verzahnungen und logischen Sequenzen zu beobachten.

 

Die beiden akademischen Lehrer in Lausanne und Wien trafen sich – ohne voneinander zu wissen – auch in der Aufgeschlossenheit für die neuen Medien. René Berger rief ein „Festival für Videokunst“ ins Leben, und Margret Dietrich betreute Dissertationen zur Erzählweise des Fernsehens. Beide Persönlichkeiten wurden an ihrer Universität belächelt.

 

Angegriffen wurde Berger schon für den Begriff der „Unterhaltungsindustrie“. Unterhaltung und Industrie schlössen sich gegenseitig aus, monierten die Ordinarii. Und als er im Titel einer Vorlesung den Terminus „Mass Media“ einsetzte, wurde ihm unter die Nase gerieben, das Wort sei ja nicht einmal französisch.

 

In jener Zeit, wo noch alles abgekastelt war und niemand etwas von Transdisziplinarität wusste, betonte René Berger schon die Porosität aller Grenzen: im geographischen Raum, in den Gesellschaften, den Wirtschafts­gebieten, in den Kulturen, im Denken, im Fühlen.

 

Bei ihm selber gingen die Dinge hin und her und waren miteinander „vernetzt“ (ein Wort, dass man damals auch noch nicht kannte). Neben wissenschaftlichen Aufsätzen schrieb er literarische und philosophische Texte, und auf dem Gebiet der Kunstkritik leistete er so Bedeutendes, dass er zum Präsidenten der Association internationale des critiques d’art gewählt und dort, wie auch bei der Association internationale pour la vidéo dans les arts et la culture, am Ende zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde.

 

Immer ging es René Berger darum, die Augen zu öffnen. Auf dem afrika­nischen Kontinent schuf er die Vereinigung der Kunstkritiker und sorgte dafür, dass deren Massstäbe und Ansichten in die alte Welt gelangten.

 

In Lausanne, wo er 19 Jahre lang als Direktor des Kunstmuseums amtierte, richtete er „Galeries pilotes“ ein, in denen das Publikum – wenn es sich überhaupt hineingetraute – den avanciertesten Werken der Gegenwartskunst begegnen konnte.

 

Bei all dem stellte René Berger den Betrachter immer wieder vor die Frage: „Ist das Kunst? Ist das noch Kunst? Ja, was ist denn überhaupt Kunst?“ Mit derselben Fragestellung provoziert das Zentrum für Kunst und Medien­technologie (ZKM) in Karlsruhe seit seiner Gründung die Besucher, und selbstverständlich sass René Berger dort im Kuratorium.

 

Der Schriftsteller, Philosoph und Kunstkritiker betrachtet fasziniert das Chaos als brodelnden Kessel, aus dem, wie in Goethes „Faust“, Gestalten, Formen und Organismen aufsteigen. Und er bekennt: „Im Erstarren such’ ich nicht mein Heil, / Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.“

 

Da kommt der Hauptmann nicht mehr mit: „Mir wird ganz schwindlig vor dem Menschen. Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt, man schneidt sich an Ihm.“

 

Wir aber müssen rückblickend sagen: „So ist es eben recht!“

  

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