Jean-Claude Pont: Zwischen der Wissenschaft und dem Berg.

13. August 1941 –

 

Aufgenommen am 5. Februar 2010 in Siders.

Jean-Claude Pont – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Gut, dauert der Film mit Jean-Claude Pont fünf bis zehn Minuten weniger lang als der Durchschnitt der „Plans Fixes“-Aufnahmen! Je länger der Mann nämlich über sein Leben und seine Tätigkeit spricht, desto stärker wird der Verdacht: „Ich habe das Falsche studiert und das Falsche gemacht! Im nächsten Leben werde ich Sport treiben, auf die Berge steigen, Mathematik studieren und Wissenschaftsphilosophie betreiben! – Anders gesagt: Das Ganze nochmals von vorn!“ <

 

Als Jean-Claude Pont im Wallis das Bergführerdiplom erhielt, durchrann ihn die grössere Freude als bei der Aushändigung des Doktortitels an der ETH Zürich. „Es muss an den Genen liegen“, erklärt er der Kamera. Vor ihm war niemand aus der Familie Akademiker geworden. Ans Studieren zu denken war damals etwas für den Nachwuchs von Ärzten und Juristen, nicht aber für die Kinder gewöhnlicher Leute. Zudem war die mathematische Wissenschaft eine abstrakte, unverständliche und tendenziell eher furchteinflössende Grösse für Leute aus dem Bergsteigermilieu, deren männliche Angehörige es mit dem Aufkommen des Tourismus unternommen hatten, Ausländer auf die Berge zu führen. Auch Jean-Claude war so gewitzt, dass er bereits mit zwölf Jahren dazu eingesetzt wurde, Menschen durch das unwegsame Gelände in die Höhe zu führen und über die Gletscher zu geleiten.

 

Wenn Jean-Claude Pont von dieser Zeit erzählt, weckt er die Sehnsucht, es auch erlebt zu haben, wie es ist, in der Nachtstille aufzubrechen und, von ihm am Seil geführt, in die Höhe zu steigen bis auf die Kuppe, wo die Sonne beginnt, Gipfel und Grate zu bestreichen. Goethe schreibt in seinem meteorologischen Tagebuch 1828: „Vor Sonnenaufgang aufgestanden. Vollkommene Klarheit des Tales. Der Ausdruck des Dichters: heilige Frühe ward empfunden.“

 

Solche Erinnerungen weckt Jean-Claude Ponts Erzählung. Und auch welche ans Höhlengleichnis Platos: „Das Auge, das Organ, mit dem jeder lernt, muss man vom Dunkel ins Licht wenden, die ganze Seele aus der Welt des Vergänglichen herumdrehen, bis sie fähig ist, den Blick in das Seiende, ja in das Hellste des Seienden, auszuhalten. Darum geht es in der Erziehungskunst, um diese Umwendung, dorthin zu blicken, wohin man soll.“

 

Haupterwerb der Familie, aus der Jean-Claude Pont stammt, bildete die Alpwirtschaft. Dafür zog sie jedes Jahr vom Tal in die Höhe und folgte zwischen Sierre und Zinal der Vegetation von Säss zu Säss, bis der herankommende Herbst die Alpabfahrt einleitete. In Zinal betrieb die Mutter einen Basar. Die 31 Kilometer talauf, talab machte man zu Fuss. Heute ist die Strecke einmal im Jahr für einen Berglauf ausgeschildert. Tausende von Teilnehmern aller Kategorien machen mit. Für das nächste Rennen vom 13. August 2022 wurden am 2. und 5. April die Anmeldungen eröffnet.

 

„Sierre–Zinal“ hat Jean-Claude Pont ins Leben gerufen. Das war 1974. Er war damals 33 Jahre alt, Doktor der Mathematik, Bergführer und Lehrer am Gymnasium. 2014 gab er das Präsidium der Veranstaltung ab. Er war damals 73 Jahre alt, emeritierter Professor der Universität Genf, wo er ab 1988 den neugeschaffenen Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften versehen hatte.

 

Um das Ordinariat beworben hatten sich neunzig Interessenten. Zugeschlagen wurde es dem 47-jährigen Jean-Claude Pont. Bei dieser Gelegenheit wurde er gleichzeitig Mitglied zweier Fakultäten: der philosophischen und der naturwissenschaftlichen. Angehörige der beiden Richtungen konnten sich fürs Studium einschreiben. Sie lernten bei Jean-Claude Pont die Geschichtlichkeit des Denkens erkennen.

 

Der Brockhaus von 1838 behandelt zum Beispiel das Wort „Fortschritt“ noch nicht. Die Ausgabe von 2006 widmet ihm zweieinhalb Seiten. Davon eine mit dem Titel: „Der Fortschritt in seiner Ambivalenz“. Wenn man nun Jean-Claude Pont von seiner Lehrtätigkeit sprechen hört, bildet sich bald einmal der Verdacht: „Ich habe das Falsche studiert. Wissenschaftsphilosophie hätte ich belegen sollen!“ Der grosse Anreger versteht es, die Menschen mit sich in die Höhe zu führen und ihnen die weiten Aussichten zu erschliessen, die man im Tal nicht hat.

 

Dafür braucht es keine Scheuklappen, sondern Vielseitigkeit. Jean-Claude Pont teilt sie mit seinem Göttinger Kollegen Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Der schrieb in seine Sudelbücher: „Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.“ Als Physikprofessor war Lichtenberg eine europäische Berühmtheit. Adelige und Prinzen besuchten seine Vorlesungen. Und auch ein paar andere: „Ich habe hier einige Personen angetroffen, die ihr einziges Vergnügen im Studieren finden, es sind aber nur sehr wenige, und sie werden durchgängig für Leute ohne Lebensart gehalten.“

 

Wenn Lichtenberg an Kopernikus denkt, ist er der Bewunderung voll. Die kopernikanische Wende „leistete er, welches man nie vergessen muss, fast hundert Jahre vor Erfindung der Ferngläser, mit elenden, hölzernen Werkzeugen, die oft nur mit Tintenstrichen geteilt waren. Wenn dieses kein grosser Mann war, wer in der Welt kann Anspruch auf diesen Namen machen? Er lässt alle die Alten, die man als seine Vorgänger nannte, unendlich weit hinter sich, und steht für sich allein.“

 

Neben gelehrten Aufsätzen schrieb Lichtenberg auch Humoristisches, wie zum Beispiel ein „Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond“ oder eine „Rede der Ziffer 8 am jüngsten Tage des 1798ten Jahres im grossen Rat der Ziffern gehalten“: „Durchlauchtigste Nulle!“ Jean-Claude Pont seinerseits veröffentlichte „La balade de la médiane et le théorème de Pythagoron“, auf dessen Umschlag ein Zapfenzieher abgebildet ist. Er hat sich angewöhnt, zur Erheiterung des Gemüts und zur Schärfung des Verstands jeden Tag eine komische Zeile zu schreiben.

 

Sein Fazit am Ende der Aufnahme für die „Plans Fixes“ im Jahr 2010 ist von von unüberbietbarer Aktualität: „Faites l’humour, pas la guerre!“

 

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