Albert Munier: Winzer, Regierungsstatthalter des Distrikts Rolle.

20. Februar 1936 – 3. März 2020.

 

Aufgenommen am 30. Oktober 1997 in Tartegnin.

Albert Munier – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Ich hätte nie geglaubt, dass ich es nochmals erleben würde, in Tartegnin vorbeizukommen. Das erste Mal verfolgte ich mit dem Velo den Lauf des Wassers von Basel nach Genf. Um den Lärm der Verkehrsstränge zu meiden, blieb ich von Lausanne an in der Höhe. Das Strässchen führte durch die Reben und verband entzückende kleine Dörfer. Tartegnin in der Mittagsstille war eine Offenbarung. Und jetzt bestätigt Albert Munier, langjähriger Bürgermeister (syndic) und amtierender Regierungsstatthalter (préfet) im Film der „Plans Fixes“: „In Tartegnin wohnt der liebe Gott.“ <

 

Die Idylle definierte Jean Paul als „Vollglück in der Beschränkung“. Was das bedeutet, kann man nachlesen in seinem „Leben des vergnügten Schul­meister­­lein Maria Wuz in Auenthal“: „Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wuz! Der stille laue Himmel eines Nachsommers ging nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum“. Dazu stellte Werner Kohlschmidt fest: „Die Subjektivität ist für Jean Paul identisch mit in sich vollendeter Individualität.“

 

Dieser Art Idylle kann man auch begegnen, wenn man sich von den „Plans Fixes“ nach Tartegnin führen lässt. Unter dem mächtigen Dach der Familie Munier (seit 1530 nachgewiesen) erzählt der 61-jährige Albert bei einem Glas Wein vor flackerndem Kaminfeuer vom Leben überm Genfersee. Bis 1950 betrieben die Dorfbewohner beides: Land- und Rebwirtschaft. Erst die Güterzusammen­legung brachte Parzellen, die es erlaubten, sich ungeteilt dem Weinbau zuzuwenden.

 

Die Menschen waren einfach, genügsam, verlässlich. Sie kannten den Mangel, aber sie hielten durch:

 

Solche Nöten, solche Haushaltungswehen, die allenthalben einkehren wie sWeihnacht- oder Neujahrkindlein, sind die rechten Fecker und Prüfer, auf welchem Fundament ein Haus gebaut sei, wie es mit dem Frieden stehe, und wie das Gemüt gefärbt sei. Denn es gibt nicht nur Milchnöten; es gibt Fleischnot, wenn kein Mümpfeli mehr im Kämi ist, Arbeitsnot, wenn die Hände nicht langen oder nichts zu tun wissen, Dienstennot, wenn niemand dienen will, sondern alle befehlen, Wetternot, wenn sWetter nicht ist wie Weiberlaune, alle Tage zweimal nass und zweimal trocken, Wösch und Sonneten ausgenommen, Krankheitsnot, wenn alles sich legen muss, sich niemand regen mag, Geldnot, wenn kein Kreuzer mehr zu finden ist gäb wie man die Säcke schüttelt und wendet. (Jeremias Gotthelf)

 

Albert Munier war noch ein Kind, als die Einwohner zum Vater kamen, der damals als Syndic amtete, um eine Eingabe an die Waadtländer Regierung zu unterschreiben: Sie hätten kein Geld, um die Steuern zu zahlen. Sie bäten um eine zinslose Stundung oder um die Möglichkeit, den Betrag in Weinflaschen zu entrichten. Wie Bertil Galland, der Interviewer feststellt, hatten die Bauern damals eben wohl Liquides, aber keine Liquidität.

 

Das zeigte sich auch im täglichen Haushalt. Es war auf dem Land noch Brauch, dass Vertreter von Haus zu Haus gingen, um Schuhwichse, Schnürsenkel, Taschenspiegel, Kämme, Nähseide, Zahn- und Abwaschbürsten zu verkaufen wie bei den Höfen des Emmentals: „Eine Frau kam alle Wochen ins Haus mit Kaffee, Seife und Zucker“ (Jeremias Gotthelf). Nun sah Albert Munier, wie seine weinende Mutter die Waren mit drei Flaschen Wein bezahlte. „Solche Nöten kehren allenthalben ein“, erklärt der Landkenner Gotthelf, „hier regelmässig alle Jahre, dort zuweilen im Vorbeigehen“.

 

Tartegnin hatte kein Gemeindehaus. Der Syndic erledigte die Arbeit am Feierabend in seiner Stube. Der Gemeindeschreiber, hauptberuflich Lehrer des Orts, ebenfalls. Die Dokumente zum Unterschreiben packte er Albert am Ende des Unterrichts in den Schulranzen, und der trug sie zum Vater, mit der strikten Weisung, unterwegs bei niemandem stehenzubleiben. So wuchs der Bub von Kindsbeinen an in die Lokalpolitik.

 

Und er lernte sich benehmen. Als der Konfirmand nach der Predigt mit dem Vater heimging, sagte ihm der: „Wenn du jetzt ins Emmental gehst, um dein Deutschschweizer Jahr zu machen und die Sprache zu lernen: Sei höflich. Gehorche. Iss alles. Und pass bei den Mädchen auf.“ Mit diesem väterlichen Segen fühlte sich Albert Munier von jetzt an erwachsen.

 

Zu seinem Weg gehörte es aber, dass er mit zwanzig Revolutionär wurde. Ihm und anderen Jungbürgern stach in die Nase, dass ein Mitglied der Schulpflege jahrzehntelang an seinem Sessel festklebte. Um es wegzu­bringen, zettelte das Jungvolk eine Verschwörung an. Es verlangte an der Gemeindeversammlung, die damals noch ohne Traktandenliste verlief und die Anträge unverweilt zur Abstimmung brachte, eine Altersgrenze für Gemeindefunktionäre. „Und wie hoch?“ „Fünfzig Jahre.“ „Und die Abstimmung?“ „Geheim.“ Der Coup brachte den Antrag mit zwei Stimmen Mehrheit durch.

 

Was aber die Jungen nicht bedacht hatten, war, dass nun auch andere Einwohner ihr Amt ablegen mussten. Der Syndic liess Albert kommen: „Du hast mich in die Bredouille gebracht. Ich habe keinen Gemeindeschreiber mehr. Ab übermorgen musst du ihn ersetzen.“ So war es nur natürlich, dass Albert kurz darauf Gemeinderat wurde, dann Gemeindepräsident.

 

Es war die Zeit, als Handschlag und gegebenes Wort noch galten. Doch auch Tartegnin wurde nach und nach vom Übel der Schriftlichkeit erfasst. Der Vater hatte die paar Dokumente, die er an der Gemeindeversammlung brauchte, noch in einer Mappe tragen können. Albert brauchte schon deren zwei. Denn er politisierte zu einer Zeit, wo man sich nicht mehr auf den Menschen verliess, sondern aufs Papier.

 

Wie Klaus Schädelin in Bern Gemeinderat wurde, kam er aus dem Staunen nicht heraus, als er im Kantonsarchiv der alten Ratsmanuale ansichtig wurde: „Festgehalten wurden nur die Beschlüsse. Sie füllten manchmal ein paar Zeilen, manchmal eine halbe Seite – pro Jahr. Und damals war Bern der mächtigste Stadtstaat Europas. Heute tritt der Stadtrat für die Geschäfte der Gemeinde alle zwei Wochen zusammen, und der Stapel der Dokumente, die ich vor jeder Sitzung lesen muss, ist dreissig Zentimeter hoch.“

 

Anders ging es in den fünfzehn Jahren zu, in denen Albert Munier als Präsident der Rebgenossenschaft mit dem Weinhaus Schenk über die Abnahme der Ernte verhandelte. Da gab es nichts Schriftliches. Preise und Termine wurden bei einem Glas Wein abgemacht, und die Beteiligten wussten: „Unser Wort gilt. Darauf kann man bauen.“

 

Aus dem selben Holz geschnitzt war auch der Astrophysiker > Marcel Golay. 1966 brachte er den Umzug des Observatoriums von Genf nach Sauverny zustande, einem Weiler in der Nähe von Tartegnin: „Nicht, weil die Luft dort klarer ist, sondern damit wir unsere Forschung mit der unserer Kollegen von der Universität Lausanne verschmelzen konnten. Die Bildung des Instituts geschah durch Handschlag. Bis heute [1999] ist nichts schriftlich geregelt. Ich hoffe, dass das so bleibt.“

 

Am Ende seiner Karriere wurde Albert Munier zum Regierungsstatthalter ernannt. Im Bezirk von Rolle, zu dem auch Tartegnin gehört (neben den prestigeträchtigen Apellationen der La Côte wie Mont-sur-Rolle, Luins, Perroy, Bursinel oder Allaman), vertritt er gegenüber der Bevölkerung die Kantonsregierung und gegenüber der Kantonsregierung die Bevölkerung.

 

Wenn er sich nach getaner Arbeit etwas Gutes gönnen will, setzt er sich auf sein Motorrad der Marke BMW und fährt auf den Col du Marchairuz, erklärt er 1997 im Gespräch mit den „Plans Fixes“. Auf 1447 m ü. M. geniesst er im Passrestaurant einen Tomme (einheimischer Weichkäse) und einen Zweier Roten.

 

Ach, Albert Munier hatte recht: Der liebe Gott wohnte in Tartegnin. Doch auch Jean Pauls Aussage trifft zu: „Der Charakter unseres Wuz hatte etwas Spielendes und Kindisches, aber nicht im Kummer, sondern in der Freude.“ Und jetzt – wo sind die Tage?

 

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