Denise Bidal: Pianistin.

4. September 1912 – 16. Juli 1989.

 

Aufgenommen am 27. Mai 1988 in Lonay.

Denise Bidal – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „L’homme fait la parade, la femme la mascarade.“ Dieser Jacques Lacan zugeschriebene Satz steigt auch aus dem Porträt auf, das die „Plans Fixes“ von Denise Bidal festgehalten haben. Nur ist die Maske bei der Pianistin fast unsichtbar. Sie besteht nicht aus Täuschung oder Vorspiegelung von Eigenschaften und Gedanken, sondern aus Ablenkung: Ablenkung von den Fragen, die beim Betrachten ihres Porträts durch die Faktoren Ehelosigkeit, Kinderlosigkeit und Partnerlosigkeit hervorgerufen werden. Die Gründe fürs Single-Dasein bleiben im Film unausgesprochen. Dafür bekennt sich Denise Bidal zum schwarzen Hund. Alle viere von sich gestreckt, schläft er brav auf dem Teppich. Er macht offensichtlich nicht die Parade. So wenig wie die Meisterin. <

 

Parade versus Bescheidenheit. Zur Lacan-Zeit trat der Unterschied am deutlichsten in der Küche vors Auge. Wenn der Mann die Gäste bekochte, war das Resultat superb, ehrfurchtgebietend, beifallheischend. Die Apparaturen, Bestecke und Gewürze, die der Mann verwendete, hatte er lange zum voraus mit Überlegung angeschafft, und für die Perfektion der Utensilien und Lebens­mittel hatte er weder Zeit noch Geld noch Aufwand gespart. Am Tisch aber staunte der Laie und sagte sich: „Das kann ich nicht. Der ist mir über.“

 

Wenn die Frau kochte, griff sie auf ihre bewährten Rezepte zurück. Sie wusste: „Das kommt an, und es wird mir gelingen.“ Während des Kochens hatte sie Zeit, mit einer Freundin zu schwatzen oder zu singen. Auf die Frage: „Wie möchten Sie Ihren Nachkommen in Erinnerung bleiben?“, antwortet die Schriftstellerin > Sylviane Roche in ihrem „Plans Fixes“-Porträt: „Als die Frau, die in der Küche sang, während sie für die Familie Clafouti und Apfelkuchen zubereitete.“

 

Eine ähnliche Sicht zeigt nun der Film von Denise Bidal. Von ihrem Lehrer Alfred Cortot hatte sie mitbekommen: „Perfektion ist unerreichbar. Auf den Geist kommt es an.“

 

Diese Weisheit steckt auch hinter der Anekdote von Tante Jolesch, die Friedrich Torberg überliefert:

 

Gleich allen wahren Köchinnen, die ihre Kunst im häuslichen Gehege ausüben, war auch die Tante Jolesch ausschliesslich auf die Genuss­freude und das Wohlbehagen derer bedacht, denen sie ihre makellos erlesenen Gerichte auftischte. Es sollte den anderen munden, nicht ihr. Sie selbst begnügte sich damit, ihren Hunger zu stillen. Als man sie einmal nach ihrer Lieblingsspeise fragte, wusste sie keine Antwort. Der Wissbegierige liess nicht locker: „Also stell dir einmal vor, Tante – Gott behüte, dass es passiert – aber nehmen wir an: du sitzt im Wirtshaus und weisst, dass du nur noch eine halbe Stunde zu leben hast. Was bestellst du dir?“ „Etwas Fertiges“, sagte die Tante Jolesch.

 

Wäre es nach den Verehrern ihrer Kochkunst gegangen, dann hätte sie sich als Abschiedsmahl ihre eigenen „Krautfleckerln“ zubereiten müssen [Nudeln mit Kabisstückchen]. Krautfleckerln waren die berühmteste unter den Meisterkreationen der Tante Jolesch. Jahrelang versuchte man der Tante Jolesch das Rezept ihrer unvergleichlichen Schöpfung heraus­zu­locken. Umsonst. Sie gab’s nicht her.

 

Dann nahte für die Tante Jolesch das Ende heran. Da fasste sich ihre Lieblingsnichte Louise ein Herz und trat vor. Aus verschnürter Kehle, aber darum nicht minder dringlich kamen ihre Worte:

 

„Tante – ins Grab kannst du das Rezept ja doch nicht mitnehmen. Willst du es uns nicht hinterlassen? Willst du uns nicht endlich sagen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?“

 

Die Tante Jolesch richtete sich mit letzter Kraft ein wenig auf:

 

„Weil ich nie genug gemacht hab …“

 

Sprach’s, lächelte und verschied.

 

Mit der gleichen unprätentiösen Selbstverständlichkeit, mit der die Spitzen­köchin Tante Jolesch Krautfleckerln auf den Tisch brachte, spricht nun die Meisterpianistin Denise Bidal über ihre Kunst und ihren Werdegang.

 

Im Haus einer Tante verfiel sie im Alter von sechs Jahren dem Klavier. Jeden Tag legte die Finger auf die Tasten und horchte den Klängen nach. Als man ihr das Zimmer versperrte, kletterte sie, „ich weiss nicht mehr wie“, durch den Keller zum Instrument. Von da an respektierten die Erwachsenen ihre Liebe zum Klavier.

 

Doch in der Westschweiz wurden die Kinder zuerst in den Rhythmikunterricht gesteckt (le solfège). Denise verstand nicht, was das Klatschen und Bewegen im Takt mit dem Klavier zu tun habe. Entsprechend zuwider waren ihr die Lektionen. Und die Rhythmiklehrerin sagte zu den Eltern: „Ihr Kind ist musikalisch unbegabt.“ So wurde Denise Bidal vom Unterricht befreit.

 

Mit acht Jahren durfte sie endlich ans Klavier, und von da an stellte sich die Frage nach der Begabung nicht mehr. Bei einem Rezital von Alfred Cortot erfuhr sie mit dreizehn, was Kunst sei (anderen ging es so bei Celibidache), und sie beschloss: „Bei dem will ich studieren!“

 

Zum ersten Mal war für sie die Musik durchsichtig geworden für etwas anderes, Grösseres, Wesentlicheres, und sie erkannte, dass es darauf ankomme, durch das Spiel die Begegnung mit dem Jenseitigen zu ermög­lichen.

 

In „Dichtung und Wahrheit“ zitiert Goethe diese „Grund­meinung“, indem er sagt, „bei allem komme es auf den Grund, das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier liege das Ursprüng­liche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche“.

 

Fünf Jahre nach der Offenbarung durch das Rezital kam Denise Bidal von Nyon nach Paris zu Alfred Cortot und Nadja Boulanger. Aber die 18-jährige kannte das „Vermächtnis“ des 80-jährigen Goethe nicht:

 

Geniesse mässig Füll und Segen;

Vernunft sei überall zugegen,

Wo Leben sich des Lebens freut.

 

In ihrem Eifer zog sich Denise Bidal eine chronische Muskelspannung zu (den „Krampf des Klavierspielers“). Sie führte zu Muskelatrophie. Ein Heilaufenthalt in der Schweiz wurde nötig. An Maschinen baute sie die Muskulatur wieder auf. Zog sich aber dabei Blasen an den Fingern zu. Auf der Fahrt nach Paris platzte eine. Die kleine Wunde führte zu einer Blutvergiftung. Die rechte Hand schwoll an. Denise Bidal kam ins Spital. „Oh, meine liebe kleine Dame, dieser Ringfinger sieht sehr schlecht aus! Wir werden ihn abnehmen müssen“, rief der Professor. „Kommt nicht in Frage“, widersetzte sich die Patientin. „Ich bin Pianistin.“ „Wollen Sie in dem Fall da hinauf?“, fragte der Arzt, und zeigte zum Himmel. „Ja“, antwortete Denise Bidal. Das gab den Mann zu denken. „Wir wollen etwas versuchen. Aber sie müssen alle drei Stunden vorbeikommen.“ Drei Tage lang legte die junge Frau ihre verletzte Hand in Bäder. Dann bildete sich die Geschwulst zurück. Bei der Untersuchung fragte nun der Arzt: „Können Sie so machen?“ Vor der Kamera beugt Denise Bidal leicht den Ringfinger. Bei diesem Anblick rief der Professor in Paris: „Gottseidank! Die Sehne ist intakt! Ihr Finger ist gerettet!“

 

Doch üben konnte Denise Bidal noch nicht. Und gleichwohl wollte sie das Examen nicht verschieben. In dieser Lage kam sie drauf, ihre Partien, wie Dr. B. in Stefan Zweigs „Schachnovelle“, im Kopf zu spielen. Als sie sich nach sechs Wochen ans Klavier setzte, bemerkte sie den Übungsrückstand kaum. Aber das Spiel war in der Zwischenzeit gereift. Diese Entdeckung gab sie später ihren Schülern weiter. Heute kennt sie jeder Skirennfahrer und jeder Opernsänger.

 

Mit 32 wurde Denise Bidal als Professorin ans Konservatorium Lausanne berufen. Sie glaubte, die Kollegen würden sich auf ihren Beitritt freuen. Aber weit gefehlt. Sie kam in ein Schlangennest. Gegen sie wurde intrigiert, und ihren Schülern wurden bei den Diplomprüfungen die Noten hinuntergedrückt. Nun, die Schüler gewannen gleichwohl die Wettbewerbe, halt mit Verspätung und im Ausland, und Denise Bidal nahm ihrerseits eine internationale Karriere in Angriff. In Amerika spielte sie als Solistin und im Trio mit Blanche und Louis Moÿse, und in der Schweiz elf Jahre lang im Trio mit Hans-Heinz Schneeberger und Rolf Looser, immer bedacht, die Gegenwartsmusik zu fördern, oft mit Ur- und Erstaufführungen von Olivier Messiaen, Peter Mieg, Frank Martin, Willy Burkhart, Eric Gaudibert oder Jean Balissat.

 

Am Ende ihrer Karriere mit zahlreichen Meisterkursen in Europa und Amerika (von 1961-1972 unterrichtete Denise Bidal auch am Konservatorium von Marlborough) kam sie hinter Morges am Genfersee in Lonay, einem Dorf von dreieinhalb Quadrat­kilometern und zweitausend Einwohnern, für die Gemeinderats­wahlen auf die Liste der Sozialdemokraten und wurde gewählt. Am Anfang fand sie die lokalen Geschäfte unbedeutend. Doch bald erkannte sie die Würde des konkreten Lebens, und wie wichtig die Erhaltung einer alten Stützmauer sein kann.

 

Ein Jahr nach der Aufnahme für die „Plans Fixes“ starb Denise Bidal am 16. Juli 1989 im Alter von 77 Jahren.

 

Für Lonay listet das französische Wikipedia heute unter der Überschrift „Berühmte Persönlichkeiten“ auf:

 

Alain Daniélou, französischer Musikwissenschaftler und Indologe, gestorben in Lonay am 24. Januar 1994.

 

Emmanuel de Graffenried, Schweizer Autorennfahrer, gestorben in Lonay am 22. Januar 2007.

 

Von Denise Bidal keine Spur.

 

L’homme fait la parade.

 

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