Nicolas Romanoff: Das wiedergefundene Russland.

26. September 1922 – 15. September 2014.

 

Aufgenommen am 1. Februar 2011 in Rougemont.

Nicolas Romanoff – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Hätte es die Revolution nicht gegeben, sässe Nicolas Romanoff zum Zeitpunkt der Aufnahme für die „Plans Fixes“ (2011) nicht im waadtländi­schen Dorf Rougemont in einem Polstersessel seines Salons, sondern – unerreichbar für uns – auf dem Zarenthron des russischen Reichs. Denn Nicolas ist der Ur-Urenkel des Zaren Nikolaus II., dem letzten russischen Monarchen und zugleich letzten Herrscher aus der Dynastie der Romanoff. Bei Jekatarinburg wurde Nikolaus II. mit seinen Angehörigen, dem Leibarzt und ein paar Dienern, die ihn nicht verlassen hatten, in der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 ermordet. Jetzt sagt der 88-jährige leutselig zur Kamera: „So alt wie ich ist noch kein Romanoff geworden.“ <

 

Das Rad der Geschichte. 1937, auf dem Gipfel seines Aufstiegs, weihte der Führer das „Haus der deutschen Kunst“ in München ein. Bei dieser Gelegenheit verkündete er:

 

Es ist meine feste Absicht, mit den Phrasen im deutschen Kunstleben aufzuräumen. „Kunstwerke“, die an sich nicht verstanden werden können, sondern als Daseinsberechtigung erst eine schwulstige Gebrauchsanweisung benötigen, um endlich jenen Verschüchter­ten zu finden, der einen so dummen oder frechen Unsinn geduldig aufnimmt, werden von jetzt ab den Weg zum deutschen Volk nicht mehr finden.

 

Im selben Jahr, wo Hitler auf dem Zenith seine neue Kunstauffassung verkün­dete, erschienen Carl Orffs „Carmina Burana“. Die Kantate beginnt mit einem Lied auf Fortuna, die sich dreht wie ein Rad und dabei das Untere nach oben kehrt und das Obere hinunterreisst. Mit diesem Introitus steht das Werk quer zur Gegenwart und zum politischen Regime. Der lateinische Text ist nicht unmittelbar verständlich. Der Durchschnittshörer ist auf eine Übersetzung angewiesen. 1937, wo Hitler Gebrauchsanweisungen verboten hat, ist das ein politischer Akt.

 

Politisch ist auch der Inhalt. Wer humanistisch gebildet ist und Latein versteht, vernimmt am Ende des ersten Lieds: „Der König sitzt im Zenith – aber er hüte sich vor dem Fall!“: „rex sedet in vertice – caveat ruinam!“ 1937, kaum hat das tausendjährige Reich richtig angefangen, wird also im Lied verkündet: Es dreht sich alles. Wer heute oben ist und regiert, wird morgen fallen …

 

Nicolas kam im französischen Exil der Romanoffs 1922 zur Welt. Die Grossmutter, Zarenwitwe, veräusserte die sechs langen Perlenketten, die sie um den Hals trug, um das Gut an der Côte d’Azur zu kaufen, in dem die Überlebenden der Familie untergebracht waren. Mit den weiteren Schätzen wurde, Perle um Perle, der Lebensunter­halt bestritten. „Wir hatten nur, was wir auf uns trugen“, erklärt Nicolas Romanoff. „Was auf den Banken lag, konnten wir abschreiben.“

 

Zehn Jahre später kamen unter Léon Blum erstmals Kommunisten in die französische Regierung. Die neue Situation wurde den Romanoffs zu unsicher, und sie emigrierten zu Verwandten nach Italien, die dort zur königlichen Familie gehörten. Aber nicht mehr lange. Denn nach seiner Wahl beseitigte der Duce die Monarchie. Jetzt fanden die Romanoffs Unterschlupf im Vatikan. Nicolas gewann die italienische Staatsbürgerschaft, und nach bestandener Matur liess er sich zum Ingenieur ausbilden.

 

An eine Rückkehr nach Russland dachte niemand mehr. Auch nicht an eine Mitwirkung in der Politik. „Die Vergangenheit gehört den Geschichtsfor­schern“, sagt der Ur-Urenkel pragmatisch im Saanenland auf 1000 m Höhe. Gleichwohl träumte er, schon als Kind, vom Kommando: Aber in der Marine. Er sah sich als Kapitän auf der Brücke eines Kriegsschiffs. Doch die Italiener sahen das nicht gleich. Sie schieden den Aspiranten wegen Kurzsichtig­keit bei der Musterung aus. „Zum Glück“, erklärt heute der weise gewordene alte Mann: „Hätte man mich genommen, läge ich – beim lamentablen Schiffspark des Duce – schon seit siebzig Jahren vermodert auf dem Grund des Mittelmeers.“

 

Im Begriff, sich in der Schweiz niederzulassen, begegnete Nicolas Romanoff der Frau seines Lebens, einer Italienerin. Es kam zur Heirat. Die beiden bewirtschaf­teten dreissig Jahre lang den Bauernhof der Frau, dann verkauften sie ihn und erwarben mit dem Erlös ihren Alterssitz im idyllischen Rougemont, 800 Einwohner, Mitglied der Vereinigung „Les plus beaux villages de Suisse“.

 

Aus der Begegnung mit dem abgeklärten, freundlich-zugänglichen alten Herrn tritt neben dem Rad der Geschichte auch hervor, dass es einen Unterschied macht, ob man jemand ist oder ob man etwas ist. Die meisten Menschen wollen ja etwas werden und definieren sich deshalb durch ihren Beruf: Ich bin Journalist. Ich bin Architekt. Ich bin Chirurg. Ich bin Professor. Ich bin Nationalrat.

 

Auch Nicolas Romanoff ist etwas: Ur-Urenkel von Nikolaus II. und damit, dynastisch gesehen, Prätendent für den Zarenthron. Und wer weiss … Auch wenn Chateaubriand vor 150 Jahren schrieb:

 

Respektieren wir die Majestät der Zeit; betrachten wir mit Verehrung die vergangenen Jahrhunderte, die durch das Gedächtnis und die Überreste unserer Väter heilig geworden sind; aber versuchen wir nicht, zu ihnen zurückzukehren, denn sie haben nichts mehr von unserer Wirklichkeit, und wenn wir vorgeben, sie zu ergreifen, zerfallen sie.

 

Weil indes Nicolas Romanoff nur etwas ist (wie der Influencer oder der Nationalrat) und nicht jemand, wird er auch nicht um seinetwillen respektiert, sondern für das, wofür er steht. Um das Personenübergreifende deutlich zu machen, wechseln die Päpste ihren Namen. So wird der Jesuit Jose Mario Bergoglio für Welt und Nachwelt zu Franziskus. Und immer, wenn es sich so verhält, erscheint hinter dem realen Menschen mehr als er: das Zarenreich oder die römische Kirche oder Hollywood.

 

Das erlebte auch der junge Schweizer Historiker Johann Müller (später Johannes von Müller), als er mit 29 Jahren im Februar 1781 zu Friedrich dem Grossen in Potsdam vorgelas­sen wurde:

 

Was fühlte ich im Vorzimmer des Siegers von Lissa, Rossbach und Torgau und Lobositz und Prag und Chotusitz und Molvitz und Hohenfriedberg und Liegnitz und Sorr, desjenigen, der die Kyros und die Alexander und die Cäsaren in sich vereint, desjenigen, der aus der Tiefe des Kabinetts, vor dem ich stand, den Kaiser in Schach hält und ganz Europa beeinflusst. Ich habe nie einen jüngeren Greis gesehen, nie lebhaftere Augen, feinere Züge, ein sanfteres Gesicht. O Friedrich, Friedrich, ich werde mich immer daran erinnern, dass ich Cäsar und Alexander gesehen habe! Ich bin in den König verliebt.

 

Für den jungen Eidgenossen verkörperte der König von Preussen die absolute geschichtliche Grösse. Und der Zar, erklärt Nicolas Romanoff in seinem Porträt, Russland. Wenn man für das Gedeihen des Zaren betete, betete man gleichzeitig für das Gedeihen von Russland.

 

Das Rad der Geschichte. Als Hanns Dieter Hüsch am 6. Mai 1925 in Moers/Niederrhein zur Welt kam, mussten die Ärzte an ihm einen Geburtsfehler feststellen: Die Füsse waren um 180 Grad verdreht. Es gab nur eine Behandlungsmöglichkeit: einmal pro Jahr die Füsse des Kindes in der Narkose leicht zu biegen und die neue Stellung durch einen Gips sechs Wochen lang festzuhalten. So musste Hanns Dieter Hüsch bis vierzehn jedes Jahr ins Spital. Am Anfang ohne zu begreifen, was vorging. Ein gekachelter Raum. Vermummte Gestalten. Eine Äthermaske. Dann Finsternis, aus.

 

„Dieses Früherlebnis“, denkt Hüsch, „muss mein ganzes Leben in die Hand genommen haben. Da kam durch die Operation etwas auf mich zu, bei dem ich spürte: Hier bist du verloren. Es ist niemand mehr da, der dir hilft und bei dir ist. So bildete sich bei mir eine gewisse Art von Autismus und Hospitalis­mus heraus. Ich habe sehr früh eine eigene Welt in mir ausgedacht.“

 

Weil er körperlich nicht mittun konnte, war er von vornherein zu einem gewissen Aussenseitertum verurteilt. Und dadurch wurde das stille Kind dazu gebracht, Fähigkeiten auszubilden, die ein normal gebauter Mensch nicht unbedingt anstrebt. Es nahm sich vor, die Aufmerksamkeit und Achtung der andern zu gewinnen, indem es etwas machte, „das nur wenige können. So falle ich auf.“

 

Am Ende ist der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch stolz, „ja auch eitel“ darauf, dass er durch seine Kleinkunst zu sich selbst gefunden hat: „Es ist mir, allerdings mit totalem Einsatz, gelungen, aus dem Nichts, nur mit der Phantasie, etwas aufzubauen, womit ich mir einen Namen gemacht habe, und zwar den meinen.“

 

Etwas aus sich machen oder jemanden aus sich machen.

 

Das ist die Frage.

 

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