Monique Mani: Das Theater hat mein Leben ausgefüllt.

21. November 1927 –

 

Aufgenommen am 28. Oktober 2019 in Genf.

Monique Mani – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Monique Mani verkörpert ein gültiges Theaterideal und damit einen lebenden Anachronismus. Zum Zeitpunkt der Aufnahme für die „Plans Fixes“ erscheint sie, drei Wochen vor ihrem 92. Geburtstag, als Wunder an Alterslosigkeit, Geisteskraft und Präsenz. Alterslos ist auch die Faszination des Theaters, die Monique Mani durch den Film vermittelt und auf den Brettern heraufzubeschwören verstand. Heute, drei Jahre nach der Aufnahme, ist die Schauspielerin 95. Immer noch ist sie an ihrer alten Adresse zu finden. Aber die Kunst, für die sie steht: Erzähltheater, Autorentheater, Schauspieler­theater, hat die deutsche Sprechbühne eliminiert. <

 

Über das diesjährige Berliner Theatertreffen schrieb die Theaterreferentin der „Süddeutschen Zeitung“ Christine Dössel am 10. Mai:

 

Schaut man sich an, was dieses Festival als die zehn bemerkenswerte­sten Inszenierungen eines Jahres vorstellt, zumindest nach Ansicht der siebenköpfigen Kritikerjury, dann ist das doch eine eher nerdige Spezialistenauswahl für den Diskurs in der Bubble. Ein theaterent­wöhntes Netflix-Publikum, das gute Geschichten und vielschichtige Charaktere liebt, ist auf diese Weise eher nicht aus dem Home-Modus zu locken. Es schlägt sich da in der Auswahl eine generelle Entwicklung im Theater nieder: die zum Dramaturgenstrebertum und zur Blasenbildung im Namen des Korrekten, Woken und Guten. Sie geht einher mit einer Tendenz zum Tunnelblick und oft auf Kosten des Spielerischen, Freien, Verrücktschönen. Oder auch einfach nur: der Anschlussfähigkeit. Denn das Theater hat ja richtige und wichtige Themen, es spricht die Zuschauer damit aber oft nicht an. Und warum? Weil es viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist: Dranbleiben, internationale Vernetzung, Mentoring, Sitzungsstrukturen ändern, Chefs einbinden („talk to your peers“), Druck ausüben, Massnahmenkataloge erstellen, und bitte die Achtsamkeit nicht vergessen! Die To-do-Liste ist inzwischen immens. Und wichtig. Aber wo bleibt die Kunst?

 

Gute Geschichten, vielschichtige Charaktere und, wichtig, die Kunst – sie standen im Zentrum des Schauspielwesens, von dem Monique Mani erzählt. Darum kann die Künstlerin mit 92 der Kamera sagen, die Bühne habe ihr ganzes Leben ausgefüllt, und sie betrachte es als Privileg, eine Arbeit betrieben haben zu dürfen, die sie rundum glücklich gemacht habe. Und auf die Frage von Patrick Ferla, woher das Glück gekommen sei, antwortet sie: Von der Qualität der Texte. Von den mehrschichtigen Rollencharakteren. Und von der Zusammenarbeit mit Regisseuren, die Sinn fürs Hintergründige hatten und es aus den Spielern herauszulocken verstanden.

 

Diese Qualitäten realisierten sich noch im letzten grossen Auftritt, den Monique Mani im Alter von 73 Jahren im Théâtre du Grütli hatte. Sie spielte eine der „Trois grandes femmes“ in Edward Albees gleichnamigem Stück. Eine happige Textmenge; an sich schon eine Herausforderung. Doch Monique Mani bestand sie; und auch die Widersprüchlichkeit der Figur. Sie spielte eine 92-jährige Frau, von Alzheimer gezeichnet. Oder war sie es nicht? Tat sie nur so, um die andern zu manipulieren?

 

Noch einmal konnte die Darstellerin realisieren, was sie ihr Leben lang am liebsten getan hatte: Einen Menschen ausloten; ihm in die geheimsten Kammern seiner Seele nachsteigen; ihm auf die Schliche kommen. Und dabei erleben, dass die Rolle im Lauf der Aufführungen wächst: „An der Premiere ist die Interpretation ja noch nicht fertig. Je sicherer man sie beherrscht, desto spielerischer, kühner, souveräner kann man danach ihre Facetten zur Darstellung bringen.“ Bei diesem Spiel werden die Künstler immer wieder überrascht, was in Stück, Aufführung und Rolle steckt. Aus diesem Grund unterstreicht auch > Jane Savigny in ihrem Porträt, wie wichtig es ist, dass man eine Inszenierung oft spielen kann.

 

Monique Mani hatte das Glück, die grossen Partien des Repertoires zu bekommen, angefangen mit Bérénice von Racine. Unter Leitung feinsinniger Regisseure konnte sie nicht nur in die Tiefe einer Rolle steigen, die Bedeutung eines Texts ergründen, sondern auch einen Bogen schmieden – also ein Ganzes gestalten, das seinerseits zum Zustandekommen eines noch grösseren Ganzen beiträgt, das paradoxerweise „Stück“ heisst. Heute ist das Wort im deutschen Schauspiel fast ausgestorben, man spricht von „Projekt“ oder „Fassung“, und die Rollen, beziehungsweise Textfragmente, werden auf verschiedene Mitspieler verteilt.

 

Zwei Beispiele aus der soeben zu Ende gehenden Saison. Zuerst „Faust I“ in Biel-Solothurn:

 

Wie üblich werden die Figuren gendergerecht aufgeteilt. Vier Darsteller, zwei männlich, zwei weiblich, spielen „den erbosten Faust, den vergnügten Faust, den frivolen Faust und den wehmütigen Faust“. Und vier weitere Darsteller, zwei männlich, zwei weiblich, spielen „das fröhliche Gretchen, das zornige Gretchen, das obszöne Gretchen und das betrübte Gretchen“. Nicht alle sind gleich gut, sprecherisch nicht und darstellerisch nicht; zwei kommen aber auch, der Gerechtigkeit halber sei’s erwähnt, aus dem Schauspielstudio TOBS.

 

Die Zerschnipselung der Szenen, heruntergekürzt zur zitathaf­ten Allusion, und die verschlaufte Neukombination der Elemente zur Collage verhindert nicht einzelne schöne, stimmungsvolle Momente. Kontext und Bedeutung aber müssen die Zuschauer aus eigener Kenntnis beibringen. Sonst sind die Fragmente aus „Auerbachs Keller“ und „Walpurgisnacht“, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht verständlich. Verloren geht auch die Klarheit der Handlung: Wie eins aufs andere folgt. Und warum.

 

Der Verlauf des Dramas mit seinem unerbittlichen Fortschreiten (ein für Goethe wichtiges Wort!) erliegt bei Nis Soegaard einem Konzept des assoziativen Pointillismus. Demgemäss bringt die Inszenierung bloss noch Tupfer von Faust und Gretchen – aber keine Entwicklung. Folglich können die Verhältnisse, die der Tragödie zugrunde liegen, kaum mehr aufgenommen und verstanden werden; nicht die Beziehung Faust – Gretchen; und erst recht nicht die Beziehung Faust – Mephistopheles.

 

Zweites Beispiel: „Jugojugoslavija“ von Bonn Park in Bern.

 

Vier Schauspielsoldaten, zwei weiblich, zwei männlich, ohne Rolle, ohne Profil, ohne Persönlichkeit, „Mannschaft“ eben, mehr nicht, werden von Regisseurin Anita Vulesica in Turnuniformen gesteckt und im Wasch­raum einer Kaserne fünf Viertelstunden lang mit Exerzierübungen beschäftigt. Reihum müssen sie stumpfsinnige Sätze wiederholen und dazu Enthusiasmus mimen: Dass früher alles besser war. Dass bald einmal alles besser wird. Und nochmals. Und nochmals. Die Textfläche, die Bonn Park für diese Übung zur Verfügung stellt, bietet, passend zur militärischen Anlage, pathetisch geschwollenen, endzeitlichen Blindtext. Damit wird „Jugojugoslavija“ zur trauererregenden Chiffre für das Elend der Konformität, und das Premierenpublikum klatscht brav konform mit, ohne Profil, ohne Persönlichkeit, „Mannschaft“ eben, mehr nicht.

 

Soviel zum Stand der Gegegenwartstheaters. Wie anders verhielten sich die Dinge beim Erzähltheater, Autorentheater, Schauspieler­theater, von dem Monique Mani spricht! Ein Beispiel: „Hedda Gabler“. In einer Regieanweisung schrieb Henrik Ibsen: „Hedda holt das Manuskript hervor, schaut ein bisschen in den Umschlag, zieht ein paar Blätter halb heraus und liest ein wenig.“ In Berlin machte Eleonora Duse daraus eine ganze Szene. Der Kritiker Alfred Kerr hielt sie fest:

 

Sie liest das Manuskript, findet Schönes darin, immer Schöneres, und zerknüllt es, zerwühlt es, grade weil sie so Schönes entdeckt, und weil es ohne sie entstanden ist. Und ihre Hände werden gezogen, zu zerknüllen und zu zerraufen, von einer unsichtbaren Macht, von einer Gier, die aus ihrem Innersten lugt, einem Zerstörungshass, dem verborgensten Sadismus der Seele, die Befriedigung fühlt, wenn ... nicht sie, sondern das, was sie regiert, die Ballen ins Feuer wirft, schmeisst, schleudert. Das dunkelste Grollen einer beleidigten, grossen, murrenden, hingerissenen Kreatur.

 

Theater ist gesteigerte Gegenwart. Ein lebendiger Anachronismus. Das macht die 92-jährige Monique Mani mit dem ersten Wort klar, das sie in den „Plans Fixes“ ausspricht. Der Interviewer fragt: „Fehlt Ihnen das Theater?“ Und Monique Mani zieht den Atem ein. Dann antwortet sie: „Beaucoup.“

 

In diesem Wort ist schon alles enthalten, was ihre Kunst ausmacht. Zuerst: eine makellose Diktion. Dann: eine volle, geübte Stimme. Und schliesslich: die Wucht einer Persönlichkeit, die vom ersten Hauch an herüberkommt – über die Rampe, über das Filmdokument, über den Bildschirm – und den Zuschauer erreicht.

 

Von da an steht man in ihrem Bann. Monique Mani hat nicht nur die Kraft, sondern auch die Substanz, bis zum Ende der Aufnahme die Flughöhe zu halten. Ein Muster für alle Jungen, die heute auf der Bühne stehen und sich fragen, nach welchem Vorbild sie sich orientieren sollen.

 

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