Jane Savigny: Schauspielerin.

2. Januar 1912 – 19. November 2001.

 

Aufgenommen am 5. September 1994 in Lausanne.

Jane Savigny – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Wenn es zur Schauspielkunst gehört, das Publikum mitreissen zu können, wurde diese Gabe Jane Savigny in überragendem Mass zuteil. Wie im Flug vergeht die 50-minütige Konversation, die Bertil Galland für die „Plans Fixes“ mit der „Comédienne“ führt. Nie bricht die Faszination ab. Denn die 82-jährige Dame hat Charme – und Präsenz. Dieser Begriff bezeichnet im Theater nicht Geistesgegenwart (welche Jane Savigny auch zeigt), sondern den Umstand, dass man auf der Bühne eine Veränderung bemerkt, wenn ein Schauspieler auf- und abtritt. Dazwischen liegt dann – wie jetzt im Gespräch – erfüllte Gegenwart. <

 

Woher sie’s hat, kann Jane Savigny nicht angeben. Gute Feen hätten ihr, vermutet sie, das Schauspieltalent 1912 bei der Geburt in die Wiege gelegt. Das in Moudon, einem Ort ohne Bühne. Es gab zwar gelegentlich Laienauf­füh­rungen. Vater und Mutter spielten mit. Daneben aber waren sie seriöse Geschäftsleute. Der Vater betrieb in zweiter Generation die Schlosserei Steck. Das Unternehmen existiert heute noch; wohl in der fünften oder sechsten Generation.

 

Im Städtchen meinten die Leute, aus der Kleinen werde es einst eine Anwältin geben. Denn Jane hatte eine schöne Stimme und war schwatzhaft. Ohne dass sie die Ursache angeben kann, hatte sie eine ungewöhnlich wohlklingende, deutliche Aussprache (noch heute ein – allerdings selten gewordenes – Qualitätskriterium für Schauspielkunst). Um sie für diese Begabung auszuzeichnen, ergänzte Moudon beim Abschluss ihrer obligatorischen Schulzeit den Preissegen für den besten Aufsatz, für die beste Mathematiknote und für den besten Gesamtdurchschnitt noch um den Preis für die beste Artikulation. Er wurde ein einziges Mal vergeben: an Jane.

 

Vom Theater wusste sie noch immer nichts. Aber dass sie eine darstellende Kunst ausüben wolle, das ja. Sie schrieb sich zum Gesangsstudium am Konservatorium von Lausanne ein und wohnte bei den Grosseltern. Nach zwei Jahren wechselte sie nach Wien. Die Staatsoper war der Olymp. Wer immer Musikaspirationen hatte, holte sich seine Massstäbe auf den Stehplätzen der vierten Galerie. Aus der Westschweiz etwa der Sänger > Hugues Cunéod, die Chordirigenten > André Charlet und > Michel Corboz und aus Utzensdorf im Kanton Bern der Musikkritiker Martin Etter (-tt-). Doch in Wien geriet für Jane Savigny das Ideal ins Wanken: „Die Sänger standen während der Arien bewegungslos an der Rampe und streckten nur zuweilen einen Arm aus. Das war mir nicht lebendig genug. Ich erwartete mehr Spiel.“

 

Gesundheitlich schon immer etwas schwach, kam die 20-jährige auf Rat eines Wiener Arzts für ein paar Monate zur Stärkung zurück nach Lausanne. Da sprach sie auf der Strasse ein Bekannter an: „Unsere Studentenverbindung (les Bellettristes) bringt in drei Wochen ein Stück heraus. Aber die weibliche Rolle ist noch nicht besetzt. Kannst du mitmachen?“ Die Eltern rieten ihr zu: „Du wirst dich weniger langweilen.“ Bei den Proben merkte sie dann, warum die Truppe bisher nicht fündig geworden war: Das Stück war schlecht. Und die weibliche Darstellerin musste die Mutter der jungen Männer abgeben. Doch Jane Savigny sagte sich: „Das gehört zum Job. Ich brauche bloss eine graue Perücke!“

 

Die Aufführung wurde kein Erfolg. Die Debütantin indes kam aufs richtige Gleis. Denn nun wollte sie die Studentenverbindung Zofingia für ihre Aufführung haben. Und nach der Premiere sprach sie der Sekretär des Lausanner Stadttheaters an: „Der Direktor erwartet Sie morgen um elf in seinem Büro.“ Dort vernahm sie: „Du bist ausserordentlich begabt. Ich will dich engagieren.“ Jane Savigny erklärt: „So war er. Er duzte alle Spieler. Aber das fand ich natürlich. Ich war ja erst zwanzig.“ Der Direktor versprach: „Du wirst von Anfang an mittlere Rollen kriegen und das Handwerk beim Spielen lernen (sur le tas).“

 

Im Film erklärt nun die 82-jährige Grande Dame, wie es damals – wir sind in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts – zuging: Jede Stadt hatte ihre permanente Truppe. Für Biel und Solothurn, die Kleinstädte am Jurasüdfuss, hatte Leo Delsen das Städtebundtheater gegründet (heute Theater Orchester Biel Solothurn, TOBS). Wöchentlich brachten die Bühnen eine Premiere heraus. Geprobt wurde an vier Vormittagen. Abends lief die Vorstellung des in der Vorwoche erarbeiteten Stücks. Aus Städten, wo das Publikum begrenzt war, besuchte man fixe Abstecherorte. Beim Städtebundtheater waren das unter anderem Langenthal, Burgdorf, Olten. Deren Bühnen hatten dieselben Ausmasse wie die Stammhäuser.

 

Die Truppe von Lausanne spielte am Dienstag, Donnerstag und Samstag in der Waadtländer Hauptstadt; daneben am Montag, Mittwoch und Freitag in Yverdon und Leysin. Dadurch kam eine beachtliche Zahl von Produktionen zustande. Und anderswo war es nicht anders. Am Zürcher Schauspielhaus ging in den acht Monaten der Spielzeit 1923/24 alle vier Tage eine Premiere über die Bühne. Das ergab 66 Hausinszenierungen. In seinen Erinnerungen an die legendäre Wälterlin-Ära der Jahre 1938-1945 führt der spätere Schauspielhaus-Direktor Peter Löffler aus: „Wir bekamen im gleichen Theater und mit demselben Ensemble in sieben Jahren an die 150 Stücke zu sehen. Therese Giese, diese Jahrhunderterscheinung des Theaters, hat bis zu ihrem Weggang von Zürich 140 Rollen gespielt.“ Wir befinden uns in der Zeit der Hausregisseure. In Bern brachte es der spätere Direktor Edgar Kelling in 50 Bühnenjahren auf 75 Inszenierungen. In Lausanne verantwortete der Hausregisseur, bei dem Jane Savigny spielen lernte, alle Premieren – durch 30 Jahre hindurch.

 

Der französische Sprachraum folgte dem Stil der Pariser Inszenierungen. Wie das Stück auszusehen habe, gaben die Dichter in ihren Regieanweisungen an. Sartre (Huis clos, erste Seite): „Garcin tritt ein, blickt sich um … Mit einer unbestimmten Gebärde … Lacht … Plötzlich wieder ernst werdend … Den andern ansehend … Kurzes Schweigen. Er geht im Zimmer umher … Plötzlich heftig auffahrend … Zornig auf die Sessellehne schlagend … Ruhiger …“ – Oder Anouilh (Antigone): „Neue Bühnenbeleuchtung: Graue, bleifarbene Morgendämmerung. – Ein schlafendes Haus. Antigone öffnet behutsam die Türe und schleicht barfuss herein, ihre Schuhe in der Hand. Sie bleibt einen Augenblick stehen und lauscht. Die Amme erscheint. Antigone mit seltsamem Lächeln … Plötzlich ernst … Leise … Mit seltsamem Tonfall, nach einer Pause …“

 

Zwei Jahre nach Lausanne kam Jane Savigny für zwei Jahre nach Brüssel, lernte dort das klassische Repertoire, und landete schliesslich in Paris. Ein fabelhaftes Engagement erwartete sie: die Hauptrolle in einer Riesen­produktion. Doch sie kam nie zustande, weil der Einmarsch der Wehrmacht in Polen die Weltlage veränderte. Jane Savigny musste in die Schweiz zurückkehren. Hier trat sie beim Truppentheater auf. Und in den Hörspielen des Radios – damals live – wie die satirische Chansonsendung  „Jane et Jack“ (> Jack Rollan). So auch das Fernsehen. Jane Savigny spielte 1951 bei der ersten Ausstrahlung von Fernsehtheater mit. 105 Stunden hatten die Proben gedauert, weil man ja nicht schneiden konnte. Der Ehemann verfolgte die Produktion bei einem befreundeten Fernsehhändler: „Du, manchmal habe ich dich im Schneetreiben erkannt!“

 

Bei einer Karriere von 60 Jahren ergab es sich zweimal, dass Jane Savigny im selben Stück auftrat: Abwechslungsweise in der jüngsten, dann in der ältesten Rolle. So in „Le Roi Pausole“ von Arthur Honegger und in „L’Arlésienne“ von Alphonse Daudet. „Und jetzt“, fragt Bertil Galland, „was möchten Sie noch zum Stichwort Theater weitergeben?“ Jane Savigny wendet sich zur Kamera: „Auch wenn ich in einem anderen Theater ausgebildet worden bin, billige ich vollkommen, was heute gemacht wird. Und ich würde bei den neuen Produktionen gerne mitmachen.“

 

Im Alter von 82 Jahren teilt die Grande Dame des Westschweizer Theaters die Offenheit mit der Doyenne des Burgtheaters Elisabeth Orth (heute 85) und dem Doyen der Münchner Kammerspiele Walter Hess (heute 82), die sich beide für die fortschrittlichsten Theaterformen einspannen lassen. Doch nun wird Jane Savigny ernst: „Unglücklicherweise bilden die Schauspielschulen heute zu viele Menschen für die Arbeit aus, die vorhanden ist. Darum finden die jungen Leute kein Engagement. Und sie können ihren Beruf nicht mehr durchs Spielen lernen (sur le tas), obwohl das immer noch der beste Weg zum Beruf ist.“

 

Die Weisheit der Alten. „Stehe auf, Balak, und höre! Nimm zu Ohren, was ich sage, du Sohn Zippors!“ (4. Mose, 23, 18)

 

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