Pierre-François Leyvraz: Die Medizin, Mittelpunkt meines Lebens. Die Patienten, die Chirurgie, die Forschung und Ausbildung in Orthopädie.

11. Dezember 1949 –

 

Aufgenommen am 20. Februar 2020 in Saint-Légier.

Pierre-François Leyvraz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „Servir et disparaître.“ Für Wikipedia gibt es Pierre-François Leyvraz nicht. Er steht nur, wie viele gewöhnliche Menschen, im Telefonverzeichnis, zusammen mit seiner Frau Esther, geborener Chiaradia. Dabei war Prof. Dr. med. Pierre-François Leyvraz, Spezialarzt für Orthopädie FMH, von 2008 bis 2019 Generaldirektor des Waadtländer Universitätsspitals Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) in Lausanne mit 11 000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 2 Milliarden Franken. In dieser Zeit figurierte die Einrichtung für das amerikanische Magazin „Newsweek“ unter den zehn besten Spitälern der Welt. <

 

„Pfarrers Kind und Müllers Vieh [Esel] geraten selten oder nie“, sagt der Volksmund, und als Pierre-François Leyvraz in die Vorpubertät kam, tat er alles, was möglich war, um die Wahrheit des althergebrachten Sprichworts zu beglaubigen. Regelmässig verbrachte er den Mittwochnachmittag im Arrest. Er war, wie die Berner sagen, „e Süchu“ (ein roher, ungebärdiger Mensch).

 

Als die Schüler des Collège de Lausanne einem psychologischen Test unterworfen wurden, schnitt Pierre-François am schlechtesten ab. Der Rektor liess die Mutter kommen und empfahl ihr, den Sohn in eine „geeignetere Schule“ (sprich: Primarschule) zu versetzen. Aber so etwas kam für ein Pfarrerskind nicht in Frage. Die Mutter setzte sich mit Vehemenz für den Übertritt ins Gymnasium ein, und dort tat der Sohn, wie der Volksmund sagt, „den Knopf auf“.

 

Wenn Pierre-François Leyvraz vor der Kamera der „Plans Fixes“ mit 70 Jahren von seiner Jugend spricht, tut er das mit einer „candeur“ (treuherzigen Offenheit), hinter der die Prägung durch das protestantische Elternhaus greifbar wird: Er war zwar ungebärdig, aber ohne Falsch.

 

Seine Redeweise erinnert an die „droiture“ (Rechtschaffenheit, Aufrichtigkeit) von Freuds Kindern. Der Vater der Psychoanalyse schrieb: „Das Moralische versteht sich immer von selbst. Ich glaube an Rechtsinn und Rücksicht für den Nebenmenschen. Aber ich weiss nichts darüber. Warum ich – übrigens meine sechs erwachsenen Kinder ebenso – ein durchaus anständiger Mensch sein muss, ist mir ganz unverständlich.“

 

Mit dem gleichen selbstverständlichen Anstand bewegte sich Pierre-François Leyvraz durchs Studium. Die Entscheidung für Medizin, erklärt er, sei im Ausschlussverfahren gefallen. Auf der Maturreise überlegte er mit seinen Freunden, was sie werden könnten: Jus kam nicht in Frage. Wirtschaft auch nicht. Literatur? Warum nicht … Doch die Berufsaussicht Lehrer war nicht verlockend. Also Medizin! Auch wenn die propädeutischen Semester wenig Begeisterndes hatten. Man musste sich durchbeissen. „Sie müssen bereit sein zu arbeiten“, sagt jetzt der 70-jährige am Schluss der Aufnahme, aufgefor­dert zu einem Rat an die jungen Menschen. Der Volksmund bestätigt seine Ansicht: „Arbeit ist der Ehre Mutter.“ Er weiss aber auch: „Die vier schwersten Arbeiten auf Erden sind studieren, beten, lehren und gebären.“

 

Wenn das Lehren durch Meister geschieht, wie das zu Pierre-François Leyvraz‘ Assistenzzeit noch der Fall war, wird das Verhältnis prägend. „Du musst nicht ein Fach studieren, sondern einen Professor“, sagten einander deshalb die aufgewecktesten jungen Leute vor der Bologna-Reform. Das verschulte Studienwesen macht diese Linie heute schwer. Dem Meister begegnet man erst spät im einen oder anderen Master-Modul.

 

In „Meister und Schüler. Ideen zu einer Philosophie der Erziehung“ legt Max Frischeisen-Köhler ein Plädoyer für die alte Ausbildungsweise vor. Der Aufsatz stammt aus dem Jahr 1900. Man merkt es dem Sprachstil an. Aber der Inhalt ist nicht veraltet, und Pierre-François Leyvraz hat seine Bedeutung am eigenen Leib erfahren:

 

Erziehen kann man immer nur mit der ganzen Persönlichkeit; es muss daher in ihr selbst als etwas Natürliches enthalten sein. Indem der Erzieher seinem Zögling die schwere Last der ersten Verantwortlichkeit abnimmt und in seiner Person ein erreichbares Ziel repräsentiert, erweckt er in ihm Daseinsfreude und Sicherheit, Glauben an sich selbst und an den Wert menschlicher Beziehungen, gibt er dem hastenden Vorwärtsstreben, das so wenig das Bedeutende zu erkennen vermag und sich in tausend Möglichkeiten versucht, Ruhe und Besonnenheit über sich selbst und Vertiefung, und erzeugt endlich jenes Gefühl innigen Zutrauens, das ihn mit der Person des Erziehers für immer verbindet.

 

Der Mensch nehme eben, erklärt Martin Buber, der Welt gegenüber immer eine „zwiefältige“ Haltung ein:

 

Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich–Du.

Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich–Es.

Das Grundwort Ich–Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.

Das Grundwort Ich–Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.

Das Wortpaar Ich–Du stiftet die Welt der Beziehung.

 

Ich–Du, Ich–Es: Für die Medizin ein entscheidender Unterschied. In die Beziehung Ich–Du trat Pierre-François Leyvraz in den Praxissemestern ein, am Krankenbett und in der fachärztlichen Ausbildung bei den Meistern. Hier wirkten über alle hierarchischen Grenzen hinweg die Menschen zusammen.

 

Das hat im Zweiten Weltkrieg auch der Rekrut Roland Donzé erfahren. Als Philologie-Student hatte er das Glück, bei der Sanität untergekommen zu sein. Dort pflückten sich die Führer, wie an der Uni, die vielversprechenden Talente heraus und machten sie zu „Gehilfen“. Donzés Mehrsprachigkeit, seine Formulierungsgabe, Merkfähigkeit und Intelligenz empfahlen ihn dem Armeepsychiater für die französische Schweiz. Ausschlaggebend war die Fertigkeit, mit der Donzé die Tastatur der Armeeschreibmaschine bedienen konnte; sie befähigte ihn, nach Diktat Gutachten zu tippen. Aus diesem Grund durfte Donzé allen Untersuchungen beiwohnen. Wenn er mit dem Militärarzt allein war, erklärte ihm der Psychiater die Details von Diagnostik und Symptomatologie mit der Wärme, mit der ein Älterer einen Jüngeren in die Handgriffe seiner Kunst einführt.

 

Der Tatsache entsprechend, dass die Zahl der Geisteskrankheiten im Krieg abnimmt, gab es wenig Dramatisches. Die meisten Patienten waren Stotterer. In der französischen Schweiz hatte sich nämlich herumgesprochen, dass man mit diesem Gebrechen vom Dienst freikomme, was auch der Fall war (wenn keine Simulation vorlag), weil das Stottern eines Soldaten die Autorität der Offiziere untergrub. Damals musste man die Vorgesetzten mit dem Adjektiv „mein“ (mon) und dem Dienstgrad anreden, also den Hauptmann mit „mon capitaine“. Da aber der Soldat immer in der Menge stand und aus der Menge heraus antwortete, bestand die Gefahr unzähmbaren Gelächters, sobald sich ein Stotterer zu Wort meldete. Denn ein Soldat mit Behinderung brachte statt „Hauptmann“ bloss „Scheisse“ heraus: „Oui, mon caca-caca-caca...“ Oder, noch schlimmer, „Scheisse“ und „Pisse“: „Oui, mon caca-caca-pipi-pipi[-taine]!“ Im Gegensatz zum Hauptmann drohten dem Obersten (Colonel) tuntige Kosenamen: „Oui, mon coco-coco-lolo-lolo[-nel]!“ Aus diesem Grund wurden echte Stotterer im welschen Heeresteil ausgemustert. Die Hauptaufgabe des Psychiaters bestand darin, Simulanten zu entlarven und zum Truppendienst zurückzuschicken.

 

Um die Echtheit des Stotterns zu prüfen, stellte sich der Arzt neben den Verdächtigen und befahl ihm, geradeaus zu blicken. „Und jetzt erzählen Sie mal, warum man Sie hergebracht hat!“ Der Mann begann, seinen Fall vorzutragen, stotternd natürlich. Der Psychiater nahm ebenso stotternd die Antwort auf, fo-fo-formulierte eine neue Frage und klinkte sich auf diese Weise in die gehemmte Sprechweise des Soldaten ein. War der Stotterer Simulant, konnte er die Nummer nicht durchhalten. Er wurde vom Lachen überwältigt und rief: „Ich kann nicht mehr!“ Der Psychiater beendete die Untersuchung mit Wohlwollen: „Es ist gut. Sie gehen jetzt zur Truppe zurück, und ich melde Ihrem Kommandanten, Sie seien geheilt.“ Und zu Donzé, unter vier Augen: „Ich muss mich neben ihn stellen, damit ich sein Gesicht nicht sehe. Sonst beginne ich als erster zu lachen.“

 

Heute haben die Fragmentierung der Medizin und der Kostendruck im Gesundheitswesen das Grundwort Ich–Du, das „nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden“ kann, in den Hintergrund treten lassen. Pierre-François Leyvraz: „In den letzten vierzig Jahren hat die Medizin gleich viele Fortschritte gemacht wie in allen Jahrhunderten vorher. Heute betreffen nur zwei Prozent der Klagen bei den Qualitätsbefragungen materielle Fehlleistungen. Der Rest sind Beziehungsprobleme. Wenn das Spital diese Tatsache nicht ernst nimmt, wird es zur Gesundheitsfabrik. Und das ist der Horror. Darum müssen wir bei der Ausbildung ansetzen und den jungen Menschen beibringen, dass sie zuerst Arzt sind und dann, gegebenenfalls, Spezialist, so wie ich das von meinen Meistern gelernt habe.“

 

„Mit gutem Ziel gewinnt man viel“, sagt der Volksmund. Aber auch: „Das Ziel nicht erreichen und dabei vorübergehen, ist eins.“ Pierre-François Leyvraz 70, emeritiert und im Ruhestand, legt den Nachfolgern seine Botschaft ans Herz: Heute sind die dringlichen Aufgaben im menschlichen Bereich zu lösen. Dazu sagt der Volksmund: „Wer nicht fortgeht, geht zurück.“

 

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