Claude Nicollier: Astronaut der europäischen Weltraumorganisation.

2. September 1944 –

 

Aufgenommen am 24. Oktober 1997 in Lausanne.

Claude Nicollier – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Im Jahr 1992, wo Claude Nicollier als erster Schweizer über der Erde kreiste, um das Hubble-Teleskop reparieren zu helfen, machte sich im Kontakt mit der Weltraumkapsel Atlantis Bundesrat Adolf Ogi am Fernsehen unsterblich mit der Anrede: „Bonjour, Monsieur Nicollier. C’est Adolf Ogi. Grüssgott. Freude herrscht!“ Zwei Weltraumflüge später fand der Astronaut Aufnahme ins Filmpantheon der „Plans Fixes“. Doch schwebte er auch bei diesem Gespräch über der Erde. <

 

Tief im letzten Jahrhundert erzählte der Schweizer Reiseschriftsteller René Gardi im Vortrag „Die Kunst des Reisens“, er bekomme immer wieder Anfragen von jungen Leuten, ob er ihnen nicht helfen könne, sich als Reisejournalist zu etablieren. Sie möchten gern auf Reportage nach Thailand oder Südamerika, doch fehlten ihnen die Mittel. „Sind Sie auch begabt?“, fragte Gardi. „Oh ja, ich hatte im Aufsatz immer eine Sechs.“ „Gut. Wissen Sie was? Machen Sie eine Reise aufs Guggershörnli und bringen Sie mir von dort eine Reportage zurück. Dann werden wir weitersehen.“ Dem Publikum erklärte der Meister: „Ein innerlich lebendiger Mensch hat schon etwas zu berichten, wenn er den Fuss vor die Haustür setzt. Wer aber ein Durchschnittskopf ist, hat auch dann nur Durchschnittliches zu erzählen, wenn er aus Thailand oder Südamerika zurückkommt.“

 

Diese Tatsache kommt nun dem Mann in die Quere, der zwischen 1992 und 1999 viermal ins All geflogen ist. Und man kann ihm daraus nicht einmal einen Vorwurf machen. Er ist gewiss ein hervorragender Astronaut und Pilot, aber er ist halt, wie wir, kein Genie im Sinn des Kulturphilosophen Egon Friedell:

 

Die Genies sind die wenigen Menschen in jedem Zeitalter, die reden können. Die andern sind stumm, oder sie stammeln. Gerhard Hauptmann hat einmal den Dichter mit einer Windesharfe verglichen, die jeder Lufthauch zum Erklingen bringt. Halten wir dieses Gleichnis fest, so könnten wir sagen: Im Grund ist jeder Mensch ein solches Instrument mit empfindlichen Saiten, aber bei den meisten bringt der Stoss der Ereignisse die Saiten bloss zum Erzittern, und nur beim Dichter kommt es zum Klang, den jedermann hören und erfassen kann.

 

Für die gehaltvolle Mitteilung braucht es ein reiches, wohlausge­stattetes Inneres. Dazu muss der Mensch seine Subjektivität entwickeln. – Friedell:

 

Auch das Objektiv ist nicht objektiv. Es ist nämlich eine ebenso unerklärliche wie unleugbare Tatsache, dass jeder Photograph, ganz wie der Maler, immer nur sich selbst abbildet. Ist er ein ungebildetes und geschmackloses Vorstadtgehirn, so werden in seine Kamera lauter vulgäre und kitschige Figuren eintreten, ist er ein kultivierter, künstlerisch sehender Mensch, so werden seine Bilder vornehmen zarten Stichen gleichen. Infolgedessen werden spätere Zeiten in unseren Photographien ebensowenig eine naturalistische Wiedergabe unserer äusseren Erscheinung erblicken wie in unseren Gemälden, sie werden ihnen wie ungeheuerliche Karikaturen vorkommen.

 

Und nun zum Weltraumflug. Er verlangt übersubjektive Teamarbeit. Der einzelne muss seine Individualität unterdrücken und sich in die übergeordnete Aufgabe einfügen. Darum, erklärt Claude Nicollier, kam es in den Shuttles auch nie zu Reibungen oder Konflikten. Oberste Priorität hatte das Erreichen des Ziels. Zu diesem Zweck mussten alle einander in die Hände arbeiten. Für Ego-Player war kein Platz, weder in der Kapsel noch am Boden. Wer sich auf Kosten anderer hervortun wollte, wurde im mehrstufigen Selektionsprozess ausgeschieden. Für die Ausbildung, um die sich der Schweizer beworben hatte, waren anfangs zweitausend Kandidaturen eingegangen.

 

Das hindert nicht, dass hinter jedem Weltraumflug Kreativität steckt, gleich wie hinter jedem Farbdrucker oder Mobiltelefon, ja sogar mehr als in allen Werken der Literaturgeschichte zusammengenommen, behauptet, wohl zu recht, der Wissenschaftsphilosoph > Jean-Claude Pont. Aber hinter den technischen Hervorbringungen steckt „anonyme Kreativität“. Sie entspricht der „anonymen Architektur“, welche den Wartehäuschen der Nahverkehrs­betriebe und den Trafohäuschen der Elektrizitätswerke Gestalt gibt.

 

Wer nun aber über Jahre und Jahrzehnte zurechtgeschmirgelt wurde, um zwischen 48 und 54 in einer engen Kapsel mit einer Handvoll Kollegen technische und wissenschaftliche Aufgaben von höchstem Anspruch zu erfüllen, der tut sich nicht hervor, wenn für eine kurze Stunde die Kamera der „Plans Fixes“ auf ihn gerichtet ist. Für ihn spricht seine Leistung, zusammen mit dem System, welches ihn ins All schoss. Demzufolge spricht Claude Nicollier während der Aufnahme auch nicht als Mensch, sondern als Astronaut.

 

Er äussert sich mit gleichmässiger Heiterkeit. Logisch verfolgt er den Faden, „wie es dazu kam“, dass er an vier Flügen teilnehmen konnte. Aber sein Unterleib ist abgeschnitten. Ein viereckiger Tisch, über den ein dunkles Tuch gelegt wurde, verdeckt den halben Menschen. Und beim Reden bewegt er die Hände eher nicht. Die Neutralität der Aussageweise wird dadurch unterstrichen, dass die Aufnahme nicht, wie bei den meisten andern Porträtierten, in der Wohnung Nicolliers entsteht, sondern in einem Raum der ETH Lausanne, dessen Architektur durch einen gewellten Vorhang verborgen wird.

 

So tritt in diesem Setting, wie bei der Frauenrechtlerin > Simone Chapuis, das Erwachsenen-Ich dominierend hervor. Der Begriff stammt aus der Transaktionsanalyse. Karl Kälin erklärt: „Das Erwachsenen-Ich beobachtet objektiv, sammelt Informationen leidenschaftslos, nüchtern, gefühllos, verarbeitet die Informationen logisch und zieht schliesslich daraus die Schlüsse. Charakteristisch ist die sachlich klare, leidenschaftslose Stimme. Mimik und Gestik fehlen.“ Ist das Erwachsenen-Ich zu ausgeprägt, fallen seine „negativen Auswirkungen“ unter die Stichworte: „Wenig Emotionen. Langweilig. Fade. Roboterhaft.“

 

Claude Nicollier gesteht, dass „die Familie“ (mehr vernimmt man nicht über sie) bis jetzt wenig von ihm hatte. Namentlich in den Monaten vor einem Flug war er so absorbiert, dass er sich von den Angehörigen immer wieder sagen lassen musste: „Du sitzt nur physisch mit uns am Tisch. Aber wir haben keinen Kontakt zu dir.“ Fazit: „Astronaut ist kein Beruf für Verheiratete.“ Ist es da ein Wunder, dass man im Film den Menschen Claude Nicollier nicht spürt?

 

Erschwerend kommt dazu, dass über alles, was mit Weltraumflug zu tun hat, so umfassend kommuniziert wurde, dass der Neuigkeits- und Informations­wert des Gesprächs aus dem Jahr 1997, technisch gesprochen, „gegen null tendiert“. Aber wer weiss, wie man das im Jahr 2097 sehen wird? – Egon Friedell:

 

Jedes Zeitalter hat einen bestimmten Fundus von Velleitäten, Befürchtungen, Träumen, Gedanken, Idiosynkrasien, Leidenschaften, Irrtümern, Tugenden. Die Geschichte jedes Zeitalters ist die Geschichte der Taten und Leiden eines bestimmten niemals so dagewesenen, niemals so wiederkehrenden Menschentypus. Wir können ihn den Repräsentativmenschen nennen.

 

So betrachtet, könnte Claude Nicollier vom Astronauten noch zum Repräsentativmenschen aufsteigen, wenn wir übrigen nicht mehr sein werden. Man wird sehen.

 

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