Maurice Zermatten: Schriftsteller.

22. Oktober 1910 – 11. Februar 2001.

 

Aufgenommen am 7. Juli 1986 in Suen (St-Martin).

Maurice Zermatten – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Maurice Zermatten war der Buhmann der Linken. Weil er – anonym – das amtliche „Zivilverteidigungsbuch“ von Oberst Bachmann übersetzt hatte, traten die Progressiven aus dem Schweizerischen Schriftstellerverein SSV aus und gründeten 1970 die Gruppe Olten mit dem Zweck, „eine demokra­tische sozialistische Gesellschaft“ zu verwirklichen. Auf der andern Seite blieb Maurice Zermatten noch ein Jahr Präsident des SSV, dann wurde er abgelöst. Sein Renommee war beschädigt. Fünf Jahre nach seinem Tod schrieb die letzte Ausgabe des Brockhaus, er habe Erzählungen und Romane „in regionalistischer Manier“ verfasst, also rückständig, eng. Dabei erklärte schon Nicolás Gómez Dávila: „Das Thema des authentischen Schriftstellers sind seine Probleme, die des unechten die seiner Leser.“  <

 

Noch bevor er recht wusste, was ein Schriftsteller sei, wusste Maurice Zermatten schon, dass er einmal die Welt und die Menschen festhalten werde, unter denen er aufgewachsen sei. In der Folge schrieb er um die achtzig Romane, Theaterstücke und Erzählungen, alle in der dörflichen Welt verhaftet, aus der er herkam, und in dieser Welt verfasste er seine eigene, besondere Spielart der „comédie humaine“, gleich wie Balzac in Paris, Dickens in London, Fontane in Berlin und Doderer in Wien – und alle diese Grossen schrieben „in regionalistischer Manier“, unbekümmert um das Urteil der Wissenschaft. „Jott, so’n Hahn. Denkt auch wunder was er is. Und mit seine Courage is doch auch man soso.“ (Fontane: Irrungen Wirrungen)

 

Es war Zeit, dass ein Walliser über das Wallis schrieb. Bis Maurice Zermatten zu publizieren begann, hatten das stets „Ausser­schweizer“ gemacht, wie die Oberwalliser sagen, Fremde mit dem kalten Blick des Reisenden: „Kaum 80’000 Einwohner, unter denen sich ein kleiner Rest angeblicher Hunnen befinden soll“, berichtete der Brockhaus über den Kanton am Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Oberwalliser sprächen Deutsch. Die Unterwalliser würden „eine aus keltischen und lateinischen Worten gebildete Mundart reden“. In „Martinach oder Martigny“ sei „der Hauptsitz des Kretinismus; in der Nähe befindet sich der schöne Wasserfall Pissevache“.

 

Die gleiche Sicht prägte auch Heinrich Zschokkes Bildband über „Die klassischen Stellen der Schweiz, gezeichnet von Gust. Adolph Müller, auf Stahl gestochen von Henry Winkles und den besten englischen Künstlern, Wien, Prag, Bern, Karlsruhe und Leipzig 1842“. Da hielt der Schriftsteller fest:

 

Während in der oberen Hälfte des Landes die Einwohner der Täler deutschen Ursprung bekunden, erscheinen die der untern als Kinder gallischer oder romanischer Abkunft. Sie sprechen Französisch, oder im allgemeinen vielmehr ein wirres Welsch, welches aus Wörtern so vieler Nationen zusammengeschüttet worden ist, als sich jemals in die Klüfte dieses Hochlandes auf Irrfahrten verloren haben mögen. Man hört da Römisch und Deutsch, Neufranzösisch und Gallisch, Hunnisch und Arabisch durcheinanderklingen.

 

Den traurigsten Anblick gewähren in den tiefen Rhonelandschaften des Unterwallis die zahlreichen Kretinen. Man kann im Durchschnitt in Ortschaften, die dem Kretinismus unterworfen sind, noch immer auf hundert Einwohner eins dieser elenden Wesen rechnen, die mit erdfahlen Gesichtern, schlaffen Mienen, dummstierenden Augen, Hals und Brust ekelhaft von ungeheuren Kröpfen belastet, zuweilen kaum Spuren von Vernunft verraten. Manche sind sprachlos; ihre Stimme gleicht nur dem Blöken eines Tiers; ihr grinsendes Lächeln jagt Furcht und Grausen ein.

 

Gleich erschien das Rhonetal auch Jakob Samuel Wyttenbach auf der „Reise durch die Alpen und das Wallisland“, publiziert 1775:

 

Wir vernahmen von einigen edlen Wallisern, dass der grösste Teil ihrer Landsleute aus Trägheit nicht nur keinem andern um Lohn dienen, sondern ihre eigenen Angelegenheiten nicht einmal besorgen; wie dann auch wirklich sowohl aus Lauterbrunnen als Grindelwald jährlich viele hinüberziehen, und ihnen um Lohn ihr Land bearbeiten und Heu, Getreide und Früchte einsammeln zu helfen. Diese Trägheit steigt bei ihnen oft zu einem solchen Grad, dass sie lieber das trübe und mit Schlamm angefüllte Wasser der Rhone trinken, als sich lauteres, gesundes und frisches Quellwasser aus einer Entfernung von einer Viertelstunde herzuholen, welches wir oft zu unserem Nachteil haben erfahren müssen. Die Weinberge, die wir um Leuk gesehen, und welche fast durchgehend ohne Stecken angepflanzt sind, so dass die Ranken oft in der grössten Verwirrung über den Boden hinkriechen und man bei der Weinlese einen grossen Teil derselben entweder mit Füssen zerreissen oder zertreten muss, zeugen auch von wenig Arbeitsamtkeit und Fleiss. Und der grösste Teil ihrer Wirtshäuser und die darin herrschende Unsauberkeit – doch davon habe ich schon genug gesprochen.

 

Nun aber erzählt der 76-jährige Maurice Zermatten vor der Kamera der „Plans Fixes“ nicht aus dem Blick des Fremden, sondern des Einheimischen, wie sich das Leben im Unterwallis gestaltete, und alles sieht ganz anders aus, als es die Reisebeschreibungen mitteilten. Mit Wärme schildert Zermatten, wie sich die Menschen in ihr hartes Los schickten. Niemand träumte von einem anderen Leben. Alle nahmen die Verhältnisse an, wie sie waren, und bewährten sich in ihnen. Sie waren überzeugt, dass sie dafür im Jenseits den Lohn finden würden. Namentlich den Frauen gab der Glaube Kraft, die zahlreiche Familie durchzubringen, zu ernähren, zu kleiden. Ihr ans Haus gebundenes Wirken beschreibt Maurice Zermatten im Film mit Verehrung und Dankbarkeit, und mit achtzig widmet er der Mutter ein letztes Buch: „O vous que je n’ai pas assez aimée“ (O Sie, die ich nicht genug geliebt habe).

 

Im „Historischen Lexikon der Schweiz“ würdigt > Doris Jakubec den Schriftsteller:

 

Zermattens erster Roman „Unnützes Herz“ (1939, französisch 1936) wurde von Charles Ferdinand Ramuz gelobt. Nach Kriegsende beschrieb Zermatten unter anderem in „Der Berg ohne Sterne“ (1960, französisch 1956) oder „Le cancer des solitudes“ [Der Krebs der Einsamkeiten] (1964) den Anbruch der Moderne und die durch technischen Fortschritt, Industrialisierung und Säkularisierung hervorgerufenen Brüche und Spannungen im Wallis der 1950er Jahre. Die autobiografen Erzählungen wie „Les sèves d’enfance“ [Der Schwung der Kindheit] (1968) zählen zu seinen besten Werken.

 

Vielleicht müsste man die erwähnten Titel bestellen, um den früheren Buhmann der Linken kennenzulernen und sich ein halbes Jahrhundert nach dem Ostrazismus ein eigenes Bild von ihm, seinem Werk und dem Wallis zu machen. Doch täuschen wir uns nicht: Das bedeutet Selbstüberwindung! Denn:

 

Das einzige, was den Modernen beschämt, ist, Bewunderung für einen aus der Mode gekommenen Autor zu zeigen. (Nicolás Gómez Dávila)

 

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