Dick Marty: Auf der Suche nach Gerechtigkeit.

7. Januar 1945 –

 

Aufgenommen am 21. September 2020 in Vex.

Dick Marty – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Aufsatzthema des Deutschlehrers Dr. Valentin Herzog für seine Sekundaner am Bieler Gymnasium: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.“ Was man sich bei dieser Sentenz aus „Faust I“ vorzustellen habe, bringt Dick Marty zur Anschauung. Der Jurist und Magistrat wirkte auf kantonaler, eidgenössischer und europäischer Ebene und handelte dabei nach der Philosophie: „Auf die innere Stimme hören und bei der Wahrheit bleiben.“ <

 

Bei der Aufnahme spricht der 75-jährige Dick Marty in den „Plans Fixes“ Tacheles. Die eine Bedeutung der hebräisch-jiddischen Wendung heisst: „Offen miteinander reden“. Und nun erklärt der Jurist und frühere Magistrat, dass sich seine Partei, der Freisinn, von den ursprünglichen Werten entfernt habe und sich nur noch als Diener des Kapitals verstehe: Keine Rücksicht mehr auf die Schwachen, keine Rücksicht mehr auf die Natur, kein Gespür mehr für Gleichgewicht und Ausgleich. Dick Marty hat es erfahren. Von 1996–2007 leitete er die Organisation „Schweiz Tourismus“, 1995–2011 war er Tessiner Kantonsvertreter im Ständerat, daneben 1998–2011 Mitglied des Europaparlaments. Vorher, 1989–1994, war er Tessiner Staatsrat (Exekutive) und 1975–1988 Staatsanwalt des Kantons Tessin.

 

Immer verfolgte der Unbestechliche den geraden Weg. Als Mitglied des Europarats legte er es mit der CIA an, machte ihre illegalen Geheim­gefängnisse in Osteuropa publik, ihre illegalen Foltermethoden, ihre illegalen Gefangenenflüge und das illegale Wegblicken der europäischen Regierungen. „Da wurde mein Vertrauen in die Institutionen erschüttert“, sagt Dick Marty. Und da wurde er in der Schweiz von den rechten Parteikollegen angeschwärzt und verraten. Aber er liess sich nicht beugen. Er blieb integer, wie zuvor schon als Mafiajäger und Drogenfahnder.

 

Rückhalt gab ihm „die Wahrheit“. Deshalb brauchte er nicht auf „Kunst“ zurückzugreifen. „Verstand und rechter Sinn“ trugen „sich selber vor“. Schon im Tierreich, erklärt Dick Marty, finde man ein angeborenes Gerechtigkeits­empfinden. Und jeder Mensch trage es in sich. Nicht immer werde es befolgt. Aber im Innersten spreche es. Der Jurist sagt damit dasselbe wie Heinrich Pestalozzi:

 

Gott hat deinem Kind eine geistige Natur gegeben; das heisst, er hat ihm die Stimme des Gewissens eingepflanzt und ihm die Fähigkeit verliehen, auf diese Stimme zu hören.

 

Beim Nachdenken darüber, wie sich das Gewissen bildet, stiess die Psychologin Annemarie Häberlin auf Gottfried Keller und schrieb: „Beste Einsichten verdanken wir nicht nur den Psychologen, sondern auch unseren Dichtern“. Dasselbe fand auch Freud: „Die Dichter haben es immer gewusst.“ In einem Gratulationsbrief zum 60. Geburtstag des Dramatikers Arthur Schnitzler sagte er:

 

So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – all das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war.

 

Für die Entwicklung des Gewissens spielen laut Annemarie Häberlin die Faktoren Liebe und Identifikation eine prägende Rolle. Gottfried Keller erklärte im „Grünen Heinrich“:

 

Auf ganz weibliche Weise [gemeint ist: durch Identifikation] schlüpfte Heinrich in die Grundsätze derer hinein, die er liebte und die ihm wohl wollten, und das war wohl weniger unmännliche Schwäche als der allgemeine Hergang in diesen Dingen, wo die besten Überzeugungen durch den Einfluss klarer Persönlichkeiten vermittelt werden.

 

Demgemäss schrieb der Genfer Schriftsteller Rodolphe Toepffer:

 

Lange Zeit habe ich die Stimme meines Gewissens nicht von der Stimme meines Lehrers unterscheiden können.

 

Und in „Frau Regel Amrein“ notierte Keller:

 

Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn so, dass er ein braver Mann wurde in Seldwyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht blieben, solange sie lebten. Wie sie dies eigentlich anfing und bewirkte, wäre schwer zu sagen gewesen; denn sie erzog eigentlich so wenig als möglich, und das Werk bestand fast lediglich darin, dass das junge Bäumchen, das so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sich nach ihr richtete.

 

Nicht verwunderlich, spricht Dick Marty von seiner Prägung durch das „liebende Elternhaus“. Aber wenn er auch „ein braver Mann wurde und zu den wenigen gehörte, die aufrecht bleiben, solange sie lebten“, erfuhr er doch schon als Staatsanwalt deutlicher als andere, was Arthur Schnitzler ans Ende seiner bitteren Justiz-, Polit- und Antisemitismuskomödie „Professor Bernardi“ gesetzt hat. Da erklärt Hofrat Winkler (ein sprechender Name; er spielt an auf die Winkelzüge der Akteure und die verwinkelte Staatsadministration):

 

Wenn man immerfort das Richtige täte, oder vielmehr, wenn man nur einmal in der Früh, so ohne sich’s weiter zu überlegen, anfing, das Richtige zu tun und so in einem fort den ganzen Tag lang das Richtige, so sässe man sicher noch vorm Nachtmahl im Kriminal [Zuchthaus].

 

Immer das Richtige tun soll ins Zuchthaus führen? Warum? „Die Macht erlässt die Gesetze, um sich zu schützen“, erklärt Dick Marty und hört nicht auf, Tacheles zu reden. Die zweite Bedeutung der hebräisch-jiddischen Wendung heisst: Unverblümt die Wahrheit aussprechen.

 

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