Pierre Goeldlin de Tiefenau: Naturforscher.

1. Mai 1937 –

 

Aufgenommen am 21. Mai 2014 in Clarens.

Pierre Goeldlin de Tiefenau – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Achtung! Dieses Porträt kann Schwermut auslösen! Unter der Spitzmarke „Boomende Badeferien“ titelt heute SRF: „Klima, Krieg, Corona: Trotzdem sind die Schweizer im Reisefieber.“ In der „Plans Fixes“-Aufnahme aus dem Jahr 2014 stellt der Naturforscher Pierre Goeldlin de Tiefenau fest: „Alle Indikatoren stehen auf rot. Wir dürfen die Bereiche nicht mehr einzeln betrachten, sondern müssen das Ganze sehen.“ Wer aber das Ganze sieht, wird schwermütig. <

 

Für den Einstieg in sein Porträt hat sich Pierre Goeldlin de Tiefenau eine Aussenaufnahme gewünscht. Eingerahmt durch zwei malerische Birken­stämme stehen der Naturforscher und seine Interviewerin Elisabeth Gordon vor der schilfgesäumten Wasserfläche des Naturreservats Les Grangettes bei Villeneuve am oberen Genfersee.

 

Hier hat der 77-Jährige als Bub die Natur kennengelernt. Später, in seiner Zeit als Professor an der Universität Lausanne und als Direktor des zoologischen Museums des Kantons Waadt, war er massgeblich beteiligt an der Unterschutzstellung des Biotops durch eine dafür eigens gegründete Stiftung, der er in der Folge zwanzig Jahre lang als Präsident vorstand.

 

Elisabeth Gordon spricht den Akademiker auf den altertümlichen Berufstitel „Naturaliste“ an. Er kam 1527 auf, um Aristoteles zu bezeichnen, also einen Philosophen, der die lebende aussermenschliche Welt nicht geringer schätzte als die Welt der menschlichen Ideen und Vorstellungen.

 

Sich selbst definiert Pierre Goeldlin de Tiefenau als engagierten und aufgebrachten Wissenschafter: „un scientifique engagé et enragé“. Der distinguierte ältere Herr, der sich der Natur verbunden fühlt, befindet sich in Zorn angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe, die über uns hereingebrochen ist, sagt er … im Jahr 2014. Und heute? „Boomende Badeferien. Klima, Krieg, Corona: Trotzdem sind die Schweizer im Reisefieber.“

 

1927 vertonte Kurt Weil die Mahagonny-Gesänge von Bert Brecht. 1930 kam die vollständige Oper unter dem Titel „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ zur Uraufführung und löste den grössten Theaterskandal der Weimarer Republik aus:

 

Die Nachbarin links wurde von Herzkrämpfen befallen und wollte hinaus; nur der Hinweis auf das Geschichtliche des Augenblicks hielt sie zurück. Der greise Sachse rechts umklammerte das Knie der eigenen Gattin und war erregt! Ein Mann hinten redete zu sich selbst: „Ich warte nur, bis der Brecht kommt!“, und leckte sich die Lippen feucht. Ein würdiger Herr mit gesottenem Antlitz hatte seinen Schlüsselbund gezogen und kämpfte durchdringend gegen das epische Theater. Vier Schlüssel hingen an langer Kette, vermutlich der Haus-, der Wohnungs-, der Lift-, der Schreibtischschlüssel. Den fünften hielt der Missvergnügte an die Unterlippe gepresst und liess über die Bohrung im Metall Luftströme von höchster Schwingungszahl streichen. Der Ton, den das Instrument erzeugte, hatte etwas Erbarmungsloses, in den Magen Schneidendes: es muss der Kasse-Schlüssel gewesen sein, auf dem der Wilde blies.

 

Alfred Polgar

 

In „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ merken drei Kriminelle, die bequem reich werden wollen, dass Gold waschen eine schwere Arbeit ist, „und wir können nicht arbeiten“. Da sagen sie zueinander: „Ihr bekommt leichter das Gold von Männern als von Flüssen! Darum lasst uns hier eine Stadt gründen und sie nennen Mahagonny, das heisst: Netzestadt! Sie soll sein wie ein Netz, das für die essbaren Vögel gestellt wird. Stellt den Bartisch auf, dort unterm Gummibaum: Das ist die Stadt. Das ist ihre Mitte. Und sie heisst: ‚Das Hotel zum reichen Manne‘.“ In der Wüste wird also ein Resort errichtet, das den Menschen gegen Sorglosigkeit und Rundumservice das Geld aus der Hand nimmt: „Und eine Woche ist hier: sieben Tage ohne Arbeit.“

 

Als Experte hatte Pierre Goeldlin de Tiefenau immer wieder Mahagonny-Projekte zu begutachten, auf lokaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene. Gern flocht er die Gesuche in den Unterricht ein und führte die Studenten aufs Feld. Da konnte es geschehen, dass ein Staudamm, um dessen Genehmigung angesucht wurde, in Wirklichkeit schon gebaut war.

 

Der Professor alarmierte das Bundesamt für Umwelt. Eine Delegation des Bundesrats flog im Helikopter an den Ort des Geschehens und traf sich dort mit der Walliser Regierung. „Was sie besprachen, weiss ich nicht“, erklärt Pierre Goeldlin de Tiefenau, „ich war nicht dabei. Aber der Staudamm steht heute noch.“

 

Um die Jugend zu sensibilisieren, organisierte Pierre Goeldlin de Tiefenau unzählige Veranstaltungen für Schüler und Lehrer. Mit ihnen brachte er die jungen Menschen zusammen mit dem, was um uns herum so kreucht und fleucht. Der Naturforscher ersparte ihnen dabei nicht das Drama des Artenschwunds, ausgelöst durch unsensible, kurzsichtige Interventionen des Menschen.

 

Auch seine Kinder und Kindeskinder machte der „Naturaliste“ mit der Tier- und Pflanzenwelt vertraut, gleich wie ihn schon sein Vater in Les Grangettes an die Natur geführt hatte. Dazu sagt er: „Mit drei Jahren kannten meine Töchter schon die Namen aller Vögel, die ihnen begegneten.“ „Und die Enkel?“ „Die interessieren sich stärker für das, was einen Motor hat.“

 

Am Ende von Mahagonny führt das Geschäftsmodell die Stadt in den Untergang; „und in zunehmender Verwirrung, Teuerung und Feindschaft aller gegen alle“ setzen „die Unbelehrten“ vor dem Hintergrund der brennenden Netzestadt endlose Demonstrationszüge „für ihre Ideale“ in Bewegung:

 

FÜR DEN FORTBESTAND DES GOLDENEN ZEITALTERS

FÜR DAS EIGENTUM

FÜR DIE ENTEIGNUNG DER ANDEREN

FÜR DIE GERECHTE VERTEILUNG DER ÜBERIRDISCHEN GÜTER

FÜR DIE UNGERECHTE VERTEILUNG DER IRDISCHEN GÜTER

 

Sechster Zug mit einer kleinen Tafel:

 

FÜR DIE DUMMHEIT

 

DUMMHEIT fusst auf Unbelehrbarkeit und bedeutet: Wider besseres Wissen Schaden in Kauf nehmen. Auf diese Weise kommt es im Sommer 2022 zu „boomenden Badeferien. Klima, Krieg, Corona: Trotzdem sind die Schweizer im Reisefieber.“

 

Vor einem Jahr untersuchte Heidi Kastner, Neurologin und Fachärztin für Psychatrie, die „Säulen der Dummheit“:

 

In meiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtssachverständige war ich immer wieder mit definitionsgemäss leicht intelligenzgeminderten Menschen konfrontiert, die irgendwelche Straftaten begangen hatten. Bei keinem einzigen von ihnen war die Intelligenz das zentrale Problem, meist waren ganz banale, alltägliche Beweggründe wie Gier, Wichtigtuerei oder die Unwilligkeit, Grenzen zu akzeptieren, ausschlaggebend dafür, dass sie mit dem Gericht in Kontakt kamen.

 

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