Regula de Souza-Kohlbrenner: Tanztheater Harmonia.

13. Januar 1952 –

 

Aufgenommen am 1. Juli 1998 in Orbe.

Regula de Souza-Kohlbrenner – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Regula de Souza-Kohlbrenner machte es mit ihrem Leben wie der frühere Denkmalpfleger der eidgenössischen Bauten Dr. Martin Fröhlich mit der Terrassenbepflanzung. Der Architekturhistoriker ging in der Wald, hob Erde aus, schüttete sie in die leeren Töpfe und liess spriessen, was aus dem Boden kam: „Du staunst über die Vielfalt! Das Leben hat mehr zu bieten als langweilige Geranien!“ Auf die gleiche Weise verfuhr Regula de Souza-Kohlbrenner. Damit entstand im Waadtländer Provinzstädtchen Orbe ein Kunst-, Musik- und Tanz-Biotop. <

 

Eben hat Regula de Souza-Kohlbrenner mit ihrem „Tanztheater Harmonie“ in Romainmôtier ein Gesamtspektakel inszeniert. Von vier Seiten her wurde die romanische Stiftskirche bespielt. Die Aufführung begann abends um acht und ging um ein Uhr in der Früh zuende. Zwischendurch wurde das Publikum zum Essen eingeladen. Es gab ein mittelalterliches Mahl, zubereitet von Regula de Souzas Mutter. Der achtzigjährige Vater hatte seinen Auftritt in der Vorstellung, und mit ihm spielten ein zweieinhalbjähriges Kind, viele jugendliche Laientänzer aus der Gegend, ein paar Musiker und zwei Profitänzer. Die Produktion versinnlichte die Jugend des heiligen Franziskus von Assisi.

 

Unglaublich: Ein Vierteljahrhundert bevor der Begriff der „Inklusion“ in Schwang kam, wurde er im „Tanztheater Harmonie“ bereits realisiert. Ein behinderter Junge tanzte mit, und ein blindes Mädchen; daneben viele, die im Vorschulalter in Regula de Souzas Tanzschule eingetreten waren und nun als Jugendliche mitmachten; ein paar Fünfzigjährige, die bei ihr das Rüstzeug geholt hatten und, nachdem die Kinder ausgeflogen waren, wieder mitwirkten; Profitänzer, die mit ihr studiert oder aus ihrem Unterricht hervorgewachsen waren. Und immer ging es der Animatorin darum, die Menschen durch die Erfahrung von Neuem weiterzuentwickeln, nach der Devise von Bertolt Brecht: „nie ankommen!“

 

Insgesamt verbrachte Regula de Souza-Kohlbrenner, wie die meisten Thespiskinder, ihr Leben in dynamischen Konfigurationen. Als Mädchen besuchte sie neben der Schule die Zürcher Tanzakademie. Dann kam sie im Alter, wo andere die Lehre absolvieren, zum Stuttgarter Ballett. Darauf wechselte sie, um sich zu perfektionieren, nach Paris, und liess sich weiterbilden in klassischem und freiem Tanz. Dann kam der Ausstieg (der sich bald als Einstieg in den eigenen Lebensweg erwies): „Ich will Weberin werden! Ich will ursprünglich sein! Ich will mit blossen Füssen gehen!“

 

Im Bauernhof von Verwandten, wo sie Kontakt suchte zum pflanzlichen und tierischen Leben, wurde sie gefragt: „Warum gibst du hier keine Tanz­stunden?“ Hier: In Cossonay. Im Waadtländer Hinterland zwischen Lausanne und Yverdon. Und Regula antwortete: „Warum nicht? Mit dem Geld, das ich verdiene, kann ich den Sommer in Südfrankreich verbringen! Also.“

 

Freundliche Seelen stellten einen Übungssaal zur Verfügung. Aufgeschlos­sene Eltern schickten ihre Kinder in die Kurse. So begann Regula de Souza-Kohlbrenner zu unterrichten. Sie strebte nicht das Klassische an, sondern das Freie. Die Kinder sollten sich nicht nach Mustern bewegen lernen, die von aussen kamen, sondern Ausdruck für die eigenen Impulse finden.

 

Als Regula de Souza-Kohlbrenner von den Ferien zurückkam, warteten nicht mehr zwanzig Schüler auf sie, sondern siebzig. Nun wurde es ernst. Überall gingen die Türen auf. Die Lehrerin bewegte sich mit Autostopp von Dorf zu Dorf. Der Boden war fruchtbar. Das Leben in der Provinz bot mehr als langweilige Geranien.

 

Schon Johann Heinrich Füssli (1745–1832), dem Verfasser kulturhistorischer Schriften, Herausgeber, Verleger und Staatsmann, war „la barbarie de nos villes“ ein Ärgernis gewesen. Und der in Genf wohnhafte deutschsprachige Schriftsteller Ludwig Hohl (1904–1980) statuierte: „Das Neue kommt von den Rändern.“ Erica Pedretti (1930–2022), Bachmann-Preisträgerin des Jahres 1984, wirkte von 1974–2015 in La Neuveville am Bielersee und anschliessend bis zu ihrem Tod am 14. Juli in Celerina (Engadin).

 

Regula de Souza-Kohlbrenner (1952–) betreibt ihre Tanzschule „Ecole de danse Harmonia“ in der Kleinstadt Orbe im nördlichen Waadtland. Dort gibt sie für Zwei- bis Fünfjährige allgemeine Bewegungsschulung; Ausdruckstanz ab drei Jahren; Spezialausbildung ab acht Jahren.

 

Man sieht: Kunst und Philosophie verlangen eigene Wege.

 

Wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet niemandem: Das bringen die „eignen Wege“ mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen: mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustösst, muss er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg für sich – und, wie billig, seine Bitterkeit, seinen gelegentlichen Verdruss an diesem „für sich“.

 

(Friedrich Nietzsche)

 

Im Unterschied zu den Dichtern und Philosophen hatte Regula de Souza-Kohlbrenner, wie alle Thespiskinder, das Glück, ihr Leben in dynamischen Konfigurationen verbringen zu können. Zum Zeitpunkt der Aufnahme wohnt sie, wie in den letzten zwanzig Jahren zuvor, in Gemeinschaft. In Orbe teilt sie das Haus mit dem Mann (einem Informatiker), den vier Kindern (eines davon adoptiert), den pensionierten Eltern aus Zürich sowie verschiedenen Freunden und Mitstreitern. Im Alltag dieser elf Menschen wird die Bezeichnung „Tanztheater Harmonia“ zum gelebten Programm:

 

Was wäre, wenn es keine Worte gäbe? Es gäbe die Geste, die vom Stolz befreit wäre, der am Gesagten und Gelesenen haftet. Es gäbe die Bewegung, weit oder gemessen, schnell oder langsam, spontan oder überlegt, aber immer schön, gelebte Schönheit.

 

Diese Bewegung, diese Geste, dieser Ausdruck ohne die Hilfe von Worten ist der Tanz.

 

Er ist die Kunst, die Seele zu erheben, indem man lernt, mit seinem Körper zu lachen und zu weinen.

 

Der Tanz verbindet die Gedanken und Gefühle mit Bewegung. Er ermöglicht es, in den Gesten einen eigenen Ausdruck zu finden und gleichzeitig mit anderen verbunden zu bleiben.

 

(Regula de Souza-Kohlbrenner)

 

262 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0