Roger Givel: Bankier.

29. Juni 1918 – 27. März 2004.

 

Aufgenommen am 11. Januar 1991 in Lonay.

Roger Givel – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Roger Givel hat es als Sohn eines Zugführers der Schweizerischen Bundesbahnen nach oben gebracht. Er wurde Besitzer eines Schlosses am Genfersee. Er wurde Besitzer einer ansehnlichen Gemäldesammlung. Er wurde Direktor der Waadtländer Kreditanstalt (Banque Vaudoise de Crédit). Er wurde Präsident der Warenmesse Comptoir Suisse. Er wurde Mitglied des dreiköpfigen Steuerungsausschusses für den Umzug der Universität Lausanne auf den neuen Campus von Dorigny. – Zur Krönung der Karriere wurde der 73-Jährige vom Filmteam der „Plans Fixes“ 1991 in seinem Schloss verewigt. Doch heute erinnert sich niemand mehr an ihn. <

 

Zu seiner Zeit war Roger Givel im Kanton Waadt die graue Eminenz. Bei ihm liefen die Fäden zusammen. Er kannte, wie man heute sagt, alle Player. Wenn einer die Idee hatte, eine Agentur für Temporärarbeit zu schaffen und sie „Adia“ zu nennen, lieh ihm Roger Givel das Kapital. Wenn ein anderer auf die Idee kam, Computermäuse zu produzieren und dafür eine Firma namens „Logitech“ zu gründen, bekam er den Kredit von Roger Givel. Wenn der Stadtpräsident von Lausanne > Georges-André Chevallaz und sein Finanzdirektor > Pierre Graber überlegten, wie sie die schweizerische Landesausstellung Expo 64 auf die Beine bringen könnten, gab Roger Givel den Rat. Als der Umzug der Universität Lausanne aufs Tapet kam, fand der damalige Erziehungsminister, die oberste Entscheidungskompetenz müsse einem Gremium von drei starken, erfahrenen Privatpersönlichkeiten anvertraut werden. Roger Givel gehörte dazu, selbstredend, und er überzeugte die Kollegen, dass sie, um unabhängig zu bleiben, auf jede Remuneration verzichten müssten. Dank dieser Einrichtung der Dinge erfolgte der Bau des neuen Campus und der Umzug der Universität geräuschlos und ohne Kostenüberschreitung.

 

Die persönliche, politische und geschäftliche Erfolgsgeschichte von Roger Givel kam dadurch zustande, dass er von Anfang an darauf achtete, mit wem er es zu tun hatte, und sich nur auf jene Personen einliess, die Profil hatten und Qualität versprachen. Darum beschränkte er seinen Umgang auf die Elite. Sein Auswahlkriterium war: „Simply the best.“ Roger Givel glaubte nicht an die Strukturen, sondern an die Menschen, und erfuhr dabei, wie Goethe: „Die Klugen haben miteinander viel gemein[sam].“ Das Umgekehrte gilt freilich auch: Je dümmer, desto sturer. Darum hielt sich Roger Givel, wie er sagt, an die Intelligenten, das heisst an jene Menschen, die „the big picture“ sehen. Bei ihnen treten die Parteigrenzen, Bekenntnisse, Prinzipien zurück zugunsten eines vernünftigen – Roger Givel sagt: „gescheiten“ – Pragmatismus: Was verlangt die Sache? Was nützt ihr? Wie können wir einander helfen, sie zu realisieren?

 

Kein Wunder, brachte ihn die erste Bubenfreundschaft in Genf schon mit > Frédéric Saegesser, dem späteren Lausanner Chirurgieprofessor, zusammen, weil sich da zwei Gleichgeartete erkannten:

 

Aequalis aequalem delectat.

Der Gleiche macht dem Gleichen Freude.

 

Ähnlichkeit ist die Mutter des Wohlwollens und die Stifterin von Beziehung und Freundschaft. Deshalb sehen wir, wie Junge gern mit Jungen zusammenkommen, wie Alte sich zu Alten gesellen, wie Gebildete sich zum Umgang mit Gebildeten hingezogen fühlen, wie Böse mit Bösen und Trinker sich mit Trinkern treffen, wie Seeleute vor allem Seeleute gut leiden mögen, wie Reiche engen Verkehr mit Reichen pflegen und wie, ganz allgemein, Gleiches an Gleichem Freude hat. (Erasmus von Rotterdam)

 

Bei den Geschäften achtete Roger Givel nicht auf das Geld, sondern auf den Menschen. „Von ihm hängt ab, ob ein Projekt gelingt, nicht von den Zahlen“, sagt er im Film. Der Erfolg gab ihm recht. Als frischbackener Doktor der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Genf entschied er sich mit 27 für die Selbständigkeit. Zur Einrichtung eines Getränkedepots in Lausanne lieh ihm der Besitzer der Mineralquelle Henniez 50’000 Franken. Um die Kunden kennenzulernen, nahm Roger Givel die Bestellungen selber auf. Weil das Geschäft schnell zu laufen begann, beteiligte sich der Patron häufig an der Auslieferung. Da sah er tiefer hinein in die Lebensmittel­läden und Quartierbeizen, und seine Neugier am Menschen wurde reich belohnt.

 

Die Erfahrung kam ihm zugute, als ihm bei der Banque Vaudoise de Crédit die Vizedirektion und fünf Jahre später die Direktion angeboten wurde. Roger Givel nahm mit allen Kreditnehmern persönlich Kontakt auf und lernte so das wirtschaftliche Geflecht des Kantons Waadt mit seinen Akteuren bis in den hintersten Winkel hinein kennen. Als er 1988 mit siebzig die Geschicke der Bank in andere Hände legte, war die Bilanzsumme von 180 Millionen auf 2,2 Milliarden Franken gestiegen. Und das mit seriösen Geschäften, nicht mit Bodenspekulation.

 

Outsourcen, Delokalisieren, Schliessen, Fusionieren, Auffressen, nur um den Gewinn zu steigern, hält der Bankier für verhängnisvoll. Damit, sagt er, zerstöre die Finanzwirtschaft das wirtschaftliche Substrat des Landes. Seine Warnung blieb ungehört. Die Folge? Die Banque Vaudoise de Crédit, gegründet 1864, gibt es heute nicht mehr. Das Comptoir Suisse, gegründet 1920, wurde 2018 liquidiert. Und im gleichen Jahr wurde in Basel auch die Sammlung Givel verauktioniert.

 

Menschliches Elende.

 

… Gleich wie ein eitler Traum leicht aus der Acht hinfällt

Und wie ein Strom verschiesst, den keine Macht aufhält:

So muss auch unser Nam‘, Lob, Ehr‘ und Ruhm verschwinden.

Was jetzund Atem holt, muss mit der Luft entfliehn.

Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehn.

Was sag‘ ich? Wir vergehn wie Rauch von starken Winden.

 

Dies hinterliess Andreas Gryphius, Philosophus und Poeta, 1640.

 

Tja.

 

Aus dem Palast ins enge Haus

So dumm läuft es am Ende doch hinaus.

 (Goethe)

 

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