François Lachat: Werkmeister eines neuen Kantons.

2. August 1942 –

 

Aufgenommen am 12. Juni 2014 in Bonfol.

François Lachat – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> François Lachat hat den Kanton Jura gezimmert. Darum nennen ihn die „Plans Fixes“ auch „L’artisan d’un nouveau canton“. Der Separatist wurde mit 28 Jahren bernischer Grossrat. Mit 34 Präsident des jurassischen Verfas­sungs­rats. Mit 37 Jahren wurde er nach der Etablierung des neuen Kantons in die Exekutive gewählt, wurde Finanz- und Polizeiminister – und gleichzeitig auch noch Regierungspräsident (wie 1984, 1988 und 1993) – doch am Ende verweiger­ten ihm die Jurassier durch Abwahl 2003 die Weiterführung des Nationalrats­mandats. „Zuerst habe ich geweint, ich gebe es zu“, erklärt der altgediente Politiker im Film. „Doch dann sah ich ein, dass es Zeit war, von der Politik zurückzutreten. Wie kann ein 61-Jähriger sein Staatswesen in die Zukunft führen?“ <

 

Wenn Gegner und Neider dem Staatsmann, der seine Karriere lange Zeit mit Spitzenresultaten säumte, vorwarfen, er regiere autoritär, so geschah das in Unkenntnis seiner Persönlichkeit: Er war („ich bin eben so geschaffen und stehe zu meinem Charakter“) ein Mitreisser, ein Anreger, ein Leader –  sozusagen von der Wiege auf, und ganz gewiss seit der Taufe, oder besser gesagt: seit der Beförderung zum General im und am Weiher (l’Etang) durch die Jugend von Bonfol. Man erreichte diesen Rang, indem man das Gewässer in seiner ganzen Länge vorwärts und rückwärts durchschwamm, dann einen lebendigen Frosch schluckte, darauf eine lebendige Schnecke, und sich schliesslich fünf Minuten nackt ausgezogen von Brennnesseln streicheln liess, ohne einen Mucks von sich zu geben. Das Dorf hatte drei Generäle. François blieb’s sein Leben lang.

 

Die Konsekration erinnert an den Witz, den Max Strasser, pensionierter Primarlehrer von Muri (BE), erzählt hat:

 

Ein Bub sagt zum andern: „Ich gebe dir einen Fünfliber, wenn du diese Schnecke da isst!“ Der andere lässt sich verführen und bringt das Tier hinunter. „Und, wie war’s?“ „Eigentlich gar nicht so schlecht.“ Nach einer Weile sagt der andere: „Wenn du diese Schnecke hier isst, bekommst du den Fünfliber zurück.“ Der Freund geht aufs Angebot ein. Der Fünfliber wechselt die Hand. Dann geht dem einen unversehens die Frage auf: „Wozu haben wir eigentlich die Schnecke gefressen?“

 

Das Wozu hat François Lachat daheim gelernt. Der Vater war Arzt. „Es verging keine Woche, dass er nicht am Familientisch sagte: ‚Die andern sind nicht für uns da. Sondern wir sind für die andern da.‘“ Das ging dem späteren Politiker in Fleisch und Blut über.

 

Einmal, als er von einer Session aus dem Zug stieg, wurde er an diese Haltung erinnert. Eine alte, gebeugte Frau sprach ihn an: „Herr Lachat, ich muss Ihnen danken. Ihr Vater hat unsere Familie behandelt, und nie haben wir eine Rechnung bekommen. Im Gegenteil, wenn er uns verlassen hatte, fanden wir zuweilen noch einen Geldschein auf der Kommode.“

 

Mit dieser Erziehung war Extremismus für François Lachat immer ein rotes Tuch: „Die Schweiz mit ihren vier Sprachen, ihren vielen Kulturen und Religionen kann man nur durch eine Politik der Mitte führen, sonst zerfällt sie. Diese Wahrheit zeigt bereits das Studium der Geschichte.“

 

François Lachat hat seinen offenen, unideologischen Blick nicht zuletzt dadurch gewonnen, dass er zwei verschiedene Wissenschaften studierte und mit zwei Lizenziaten abschloss: Literatur und Jus. „In der Literatur sieht man die grossen Zusammenhänge. Und im Recht das Detail. Beides ergänzt sich.“

 

Naheliegend, dass der Pragmatiker von Anfang an in Gegensatz stand zum Generalsekretär des Rassemblement jurassien > Roland Béguelin. „Nachdem wir den Kanton gegründet hatten, wollte er die Bewegung von der Strasse aus weiterführen und in Opposition zur Regierung gehen. Ich musste ihn bekämpfen, um die neugeschaffenen Institutionen zu schützen.“

 

François Lachat hielt sich an die Tatsache, dass es wohl der Mensch ist, der schafft, es aber die Institutionen sind, die dauern. Zu den Institutionen gehört das Gesetz: „Zum Schutz der Schwachen.“ Gesetzlichkeit und Schutz der Schwachen war sein Credo. Mit ihm politisierte er im Lager der Christlichen Volkspartei, heute: „Die Mitte“.

 

François Lachat gibt auch Béguelin die Schuld, dass sich der Südjura in allen Abstimmungen der Vereinigung mit dem Norden widersetzte und beim Kanton Bern bleiben wollte: „Wie oft sagte ich ihm zusammen mit Roger Schaffter [erster Ständerat des Kantons Jura von 1979–1987]: ‚Wenn du ein Mädchen verführen willst, darfst du es nicht heruntermachen und beleidigen!‘ Es war für mich deshalb unvermeidlich, ihn zu bekämpfen. Doch am Ende hat er mir meine Gegnerschaft nicht verübelt. Als seine Frau starb, wünschte er, dass ich bei der Abdankung neben ihm sitze.“

 

Geradlinigkeit und Mut, erworben im Elternhaus und am Etang de Bonfol, haben François Lachat durch seine lange politische Karriere geführt, und jetzt setzt er sich im Alter von 70 Jahren mit diesen Tugenden vor der Kamera der „Plans Fixes“ in Achtung.

 

Er ist zu seiner ersten Liebe, der Literatur, zurückgekehrt und geniesst das Wiederlesen. Wie recht er hat! „Nur was wir wiederlesen, haben wir selbst bestimmt.“ (Nicolás Gómez Dávila) Und was die Staatsgeschäfte angeht, hat er die aktive Haltung vertauscht mit der philosophischen:

 

Unsere Kontemplation ist nicht nur ein Recht und eine Pflicht, sondern zugleich ein hohes Bedürfnis; sie ist unsere Freiheit mitten im Bewusstsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten.

 

Statt des Glückes wird das Ziel der Fähigen nolentium volentium [wohl oder übel] die Erkenntnis. Und dies nicht etwa aus Gleichgültigkeit gegen einen Jammer, der uns ja mitbetreffen kann, – wodurch wir vor allem kalten Objektiv-tun geschützt sind, – sondern weil wir die Blindheit unseres Wünschens einsehen, in dem die Wünsche der Völker und Einzelnen wechseln und sich widersprechen und aufheben.

 

(Jacob Burckhardt)

 

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