Paul Vallotton: Radio-, Fernseh- und Theatermann.

7. September 1919 – 20. Januar 2010.

 

Aufgenommen am 23. Januar 1992 in Lausanne.

Paul Vallotton – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Als er fürs Westschweizer Fernsehen eine Reihe von Begegnungen mit René Morax aufnahm, rief der greise Theatermann unversehens zornig: „Ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen! Nach meinem Tod soll es einen Dialog mit Abwesenden geben!“ Für die 103. Aufnahme der „Plans Fixes“ braucht nun Paul Vallotton denselben Begriff. Wenn man seinen Namen anklickt (das Wort gab es zu seiner Zeit noch nicht), begegnet man einem 72-Jährigen, der heute 102 Jahre alt wäre, und von Verhältnissen spricht, die das Leben unserer Eltern, Gross- und Urgrosseltern geprägt haben, für uns aber zur Vergangenheit gehören. – Dialog mit Abwesenden, wahrhaftig. <

 

Fünfzig Jahre lang hat Paul Vallotton bei der SRG gedient und in dieser Zeit vier Direktionen versehen. „Alle wurden mir angeboten“, sagt er: Direktion des Radiostudios Lausanne, Direktion der Information von Radio Suisse Romande, Direktion der Glückskette und Direktion der Programmkoordi­nation von Radio und Fernsehen in der Westschweiz. Im Lauf dieser Karriere war er an vielem beteiligt.

 

1936 trat Paul Vallotton, damals 17, beim Radio ein. Seine Stimme wurde für ein Hörspiel gebraucht: „L’Oeillet blanc“ von Maurice Maeterlinck. Nach drei Proben ging die Aufführung live über den Sender. Die Gage betrug 15 Franken. Die Woche darauf erhöhte der Radiodirektor die Gage auf 20 Franken, und Paul Vallotton kam zur Truppe der „Pièce du mardi“. Es war die Glanzzeit des Radiotheaters. Der Direktor hielt ihn im Korridor an: „Ich habe gehört, dass Sie Gedichte aufgenommen haben.“ Er öffnete das Portemonnaie: „Nehmen Sie zum Dank diesen Fünfliber.“

 

Nach dem Krieg kam die Zeit des Fernsehens. 1951 erhielt das Studio Lausanne von der Stadt 50’000 Franken für eine Kamera und einen Kameramann. Um den Betrieb aufnehmen zu können, musste Paul Vallotton jedoch bei Bundesrat Karl Kobelt, dem Vorsteher des eidgenössischen Militärdepartements EMD, für den Kameramann ein Gesuch um Freistellung vom Dienst einreichen, denn es gab in der welschen Schweiz keinen zweiten seines Berufs.

 

Der Versuchsbetrieb brachte Varietés, Beiträge zur Aktualität und Fernseh­spiele. Als das Geld aufgebraucht war, erwirkte Paul Vallotton beim Stadt­präsidenten einen Zuschuss von 5’000 Franken. Der half noch über ein paar Tage hinweg, dann hiess es Schluss. Der Standort des Westschweizer Fernsehens ging definitiv nach Genf, das mit anderer Kelle hatte anrichten können.

 

Paul Vallotton hatte in der Zeit schon angefangen, die Welt zu bereisen. 1945, also im Alter von 26 Jahren, war er zum Leiter des Reportagediensts berufen worden, den es aufzubauen galt, und dann berichtete er, gleich nach Öffnung der Grenzen, aus dem Elsass, dem zerstörten Polen; er begleitete die Gründung Israels; machte mit Hilfe eines eigens konstruierten Übertra­gungs­geräts eine Direktsendung vom Matterhorn; bereiste die Schweiz, Europa, Afghanistan, die UdSSR, die USA, Madagaskar, China, Japan, Zentralasien ... „Insgesamt bin ich fünfmal um die Welt gefahren, mit dem Flugzeug, dem Schiff, der Eisenbahn und der Transsibirischen.“ Daneben leitete Paul Vallotton im Rang eines Hauptmanns die Abteilung Presse und Funkspruch (APF), über die im sogenannten Ernstfall der Bundesrat die Bevölkerung informiert.

 

Nun folgte die Zeit der Kämpfe. Zuerst kämpfte Paul Vallotton dafür, dass das Radio eigene Nachrichtensendungen ausstrahlen durfte. Bis in die 1960er Jahre kamen, unter dem Einfluss des schweizerischen Zeitungs­verleger­verbands, die Bulletins nicht aus den Studios der SRG, sondern aus den Büros am Berner Falkenplatz: „Sie hören die Nachrichten der schweizerischen Depeschen­agentur.“ Als das korrigiert war, ging’s um die Fernsehnachrich­ten. Sie kamen aus Zürich. Paul Vallotton setzte sich ein, sie nach Genf zu bringen.

 

Neun Jahre lang, erzählt er im Film, dauerte der Kampf mit der PTT, die UKW-Sender auf Stereophonie umzurüsten. Es folgte der Kampf um die Einführung der zweiten Radio­programme (Kultur), dann der dritten (Jugend). Die Einführung eines vierten Programms für die Deutschschweiz (News) hat Vallotton mit Todesjahr 2010 nicht mehr erlebt. Heute gehört das alles zu den „alten Geschichten, längst verschmerzt“ (Kafka). UKW ist passé.

 

Zum Entzücken der Siebzigjährigen bringt das Handy weltweiten Konzertgenuss in ungeahnter Qualität über Bluetooth kabellos ins Ohr. Die Jungen aber kennen das Medium Radio nicht mehr. Und Fernsehen spielt, das zeigen die Umfragen, erst ab 45 noch eine Rolle.

 

In all dem manifestiert sich, nach Bertolt Brecht, das „Lob der Dialektik“:

 

Wer noch lebt, sage nicht: niemals!

Das Sichere ist nicht sicher.

So, wie es ist, bleibt es nicht.

 

Zu den Konstanten seines Lebens gehörte für Paul Valloton indes der Sinn für dramatische Dichtung. Schon als Gymnasiast nahm er Sprechunterricht, ersetzte nach einem Jahr den Lehrer während seiner Abwesenheit, und mit 18 betrat er zum ersten Mal die Bühne der „Belles-Lettres“, einer Studenten­verbindung, die seit 1806 anstrebte: Leichtigkeit, Unabhängigkeit, Offenheit, Grazie, Humor, Ironie.

 

In Vallottons Beitrittsjahr 1937 reichten die „Belles-Lettres“ eine Kandidatenliste für die Waadtländer Grossratswahlen ein. Ihre Ziele:

 

Primat des Kurfürsten, Annexion Savoyens, Wahlrecht für ledige Frauen, Autonomie der Insel Rolle, Schutz der Zugvögel und Senkung der Sterblichkeitsrate.

 

Beim Studententheater blieb es nicht. Paul Vallotton stieg ins Théâtre municipal de Lausanne auf. Er verkörperte die Titelrolle in Arthur Honeggers „Le Roi David“, erhielt Engagements von den Regisseuren Philippe Mentha und > Benno Besson und brachte es am Ende seiner Bühnenkarriere auf über fünfzig Rollen – neben dreissig Inszenierungen, die er selbst geleitet hatte.

 

Sein Künstlername war Paul Darzac – ursprünglich aus Notwendigkeit. Die Professoren der Universität sollten nicht merken, dass er sich zur ernsten und heiteren Muse, Melpomene und Thalia, hingezogen fühlte. Denn das Fach, das er studierte, war Jus. Er brachte es übers Lizenziat hinaus zum Doktoratsstudium, verzichte dann aber auf die Dissertation: „Wozu noch zwei Jahre verlieren?“, sagte er sich. „Ich habe ja am Radio meinen Erwerb!“ Das Einkommen reichte, um 1952 Jacqueline, die Tochter des Bahnhofsvorstehers Emile Nicoulaz, zu heiraten.

 

Paul Vallotton blickt zurück. „All meine Tätigkeiten bilden eine Feier des Lebens (une éloge de la vie). Wie oft habe ich am Ende von ‚Le Roi David’ sagen dürfen:

 

Ach, wie schön war dieses Leben. Ich segne dich, der du es mir geschenkt hast.“

 

Während Paul Vallotton im Film seine überreiche Biografie ausbreitet, geht es dem Betrachter wie Lucile in „Dantons Tod“ (Georg Büchner):

 

Camille: Was sagst du, Lucile?

Lucile: Nichts, ich seh dich so gern sprechen.

 

So läuft der Dialog mit Abwesenden.

 

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