Gil Roman: Ich komme vom Tanz, da komme ich her.

29. November 1960 –

 

Aufgenommen am 5. Februar 2017 in Lausanne.

Gil Roman – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Es war einmal ein Junge, der fiel, als er sieben Jahre alt war, in den Glückstopf. Da nahmen sich gute Feen seiner an und erzogen ihn zum Prinzen. Als er sich bewährt hatte, kam er an den Königshof. Der Marschall erkannte ihn, brachte ihn vor den Thron, und der König öffnete seine Arme: „Lieber Sohn, bleib hier! Du sollst mein Reich erben.“ So kam es. Doch als der Prinz König geworden war und das Reich regierte, suchten ihn böse Dämonen heim. <

 

Der Lebenslauf, den Gil Roman für die „Plans Fixes“ im Gespräch mit Patrick Ferla ausbreitet, gleicht einem Märchen. Mit sieben Jahren holt er etwas zu früh die Schwester von der Tanzstunde ab, schaut deshalb vom Rand aus den Übungen zu und wird schliesslich gefragt: „Willst du nicht mitmachen?“ Damit tritt er ins Reich des Tanzes ein, um es nie mehr zu verlassen. Dem hyperaktiven Jungen hat sich nämlich erschlossen, wozu der liebe Gott seinen Körper mit so viel Energie ausgestattet hat.

 

„War Tanz damals nicht eine Mädchensache?“, fragt Patrick Ferla, der Interviewer. „Ja. Ich war der einzige Junge. Und das genoss ich auch, offengestanden, denn die Lehrer förderten mich nach Kräften. Tänzer galten zwar als schwul. Aber das war mir egal.“ Man sieht: Gil Roman drückt sich unumwunden aus. Er ist im ganzen Gespräch von wohltuender Offenheit. Das gibt dem Erzählten nicht nur einen natürlichen, sondern einen geradezu selbstverständlichen Anstrich.

 

Aber vielleicht passiert das immer, wenn man sich dort befindet, wo man hingehört. Dann wird das Schwere leicht. Das gilt sogar fürs Schreiben, versichert Jacques Barzun in seinem Steadyseller „Simple and direct. A rhetoric for writers“: „Das Schreiben kann wirklich zum Vergnügen werden, wie die körperliche Betätigung oder das Gitarrenspiel.“ (Writing can in fact become enjoyable, like physical exercise or playing the guitar.) Das erklärt, warum Gil Roman nie Mühe hatte mit allem, was mit Körper und Bewegung zusammenhängt.

 

Als er mit 19 in die Truppe von Maurice Béjart eintrat, bekam er gleich die grössten Rollen und gab sich ihnen restlos hin. „Maurice verdanke ich alles. Er war mein Meister.“ In der Folge wuchs der Meister zum Vorbild aus, zum Vater, und schliesslich zum Freund. In Lausanne verbrachte der Ballettchef manche Abende mit Gil, dessen Frau (ebenfalls Tänzerin) und der kleinen Tochter: „Für sie war er aufmerksam und liebevoll wie ein Grossvater.“

 

Ergeben hatte sich die Nähe der beiden Männer aus einem Moment der Mutlosigkeit. Gil Roman war nicht zufrieden, wie es in der Truppe lief, und überlegte sich den Austritt. Da begegnete ihm Maurice Béjart: „Wie geht es Ihnen?“ „Ich bin nicht glücklich mit dem Ensemble.“ „Ich auch nicht. Ändern Sie es!“ Das Geständnis brachte sie ins Gespräch. „Setzen wir uns auf diese Bank!“ Und nun erlebten die beiden das Niederbrechen aller Barrieren.

 

Erich Fromm weiss, wodurch sich die Getrennt­heit für viele Menschen auflöst:

 

Das Erzählen vom eigenen Leben, von den eigenen Hoffnungen und Ängsten, das Präsentieren der eigenen kindlichen oder kindischen Phantasien, die Tatsache gemeinsamer Interessen gegenüber der Welt – das alles gilt als Überwindung der Getrenntheit. Selbst den eigenen Ärger und den eigenen Hass zu zeigen, ja der völlige Mangel an Hemmungen gilt als Intimität. – Diese Arten von „Nähe“ haben jedoch die Eigenschaft, im Laufe der Zeit immer mehr zu schwinden.

 

Im Unterschied zum gewöhnlichen „Laufe der Zeit“ indes wuchs aus der Begegnung der beiden „eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen“ (Fromm): Gil Roman wurde Choreograph, Co-Direktor, Direktor der Truppe, und in dieser Eigenschaft Nachfolger Béjarts.

 

Ihre Begegnung stand, um nochmals Erich Fromm zu zitieren, im Zeichen der Reife:

 

Reife Liebe ist Eins-Sein unter der Bedingung, die eigene Integrität und Unabhängigkeit zu bewahren, und damit auch die eigene Individualität.

 

Wenn er auf dieser Basis entsteht, wird der Tanz mehr als ein ästhetisches oder erotisches Vergnügen. Er wird zur Feier der Mitmenschlichkeit, wie sie Maurice Béjart in seiner Choreographie von Beethovens 9. Symphonie gestaltete. Gil Roman hat das Werk nachchoreographiert und in zahlreichen Gastspielen in Japan und Europa gezeigt – in Brüssel vor 24’000 Menschen. „Alle Menschen werden Brüder. Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Für Gil Roman führt der Tanz zur Begegnung mit dem Höchsten:

 

Brüder! Überm Sternenzelt

Muss ein lieber Vater wohnen. 

 

(Friedrich Schiller)

 

Dazu Erich Fromm:

 

Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, liebe ich alle Menschen, liebe ich die ganze Welt und liebe ich das Leben.

 

Was gibt es eigentlich ein Mensch dem anderen? Er gibt von sich selbst, von dem Kostbarsten, was er besitzt, von seinem Leben. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass er sein Leben anderen zum Opfer bringt, sondern dass er von dem gibt, was in ihm lebendig ist. Er gibt von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor und von seiner Traurigkeit – kurz, von allem, was in ihm lebendig ist. Und dadurch, dass er von seinem Leben gibt, bereichert er den anderen, steigert er das Lebensgefühl des anderen in der Steigerung des eigenen Lebensgefühls. Er gibt nicht, um etwas dafür zu empfangen; aber durch sein Geben kann er nicht vermeiden, im anderen etwas zum Leben zu erwecken, das wiederum auf ihn zurückwirkt; weil er etwas gibt, kann er nicht umhin, das zu empfangen, was ihm zurückgegeben wird. Das Geben umschliesst gleichzeitig, dass der andere ebenfalls zum Gebenden wird und dass beide sich an dem freuen, was zum Leben erweckt worden ist. Im Akt des Gebens wird etwas geboren, und beide, der Gebende und der Empfangende, sind dankbar für das Lebendige, das für sie beide geboren wurde.

 

In den kommenden Tagen bringt Gil Roman mit dem Béjart-Ballett seine Gabe nach Turin (14. – 17. September), Delsberg (5. Oktober), Sevilla (14., 15. Oktober), Rimini (22. Oktober), Romont (29. Oktober), Morges (18. November), Lausanne (16. – 22. Dezember) und Düdingen (9. Februar).

 

Doch Schiller hielt in „Wilhelm Tell“ fest:

 

Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben,

Wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

 

Im Mai 2021 gibt es Berichte über Probleme in der Ecole-Atelier Rudra Béjart Lausanne, der vom Meister gegründeten Ballettschule der Kompanie. Ihr Direktor Michel Gascard wird entlassen und die Schule geschlossen. Entlassen wird auch der Produktionsleiter des Béjart Ballet. Vorgeworfen werden ihm mangelnde Distanz zu den Mitarbeitern und Respektlosigkeit gegenüber Frauen.

 

Gil Roman wird ebenfalls in den Strudel gezogen. Angelastet werden ihm Demütigung, sexuelle Belästigung, Homophobie, Kokainkonsum und Vetternwirtschaft. Doch die Anschuldigungen erweisen sich als haltlos. Die Untersuchung führt zu keinem strafrechtlichen Verfahren. Gil Roman bleibt künstlerischer Direktor und Choreograph der Kompanie.

 

Doch „um die derzeitige Leitung und die Aktivitäten der Kompanie in der Schweiz und im Ausland bestmöglich zu unterstützen“, schafft der Stiftungsrat die Stelle eines Generaldirektors. Letzte Woche teilte > Solange Peters als Präsidentin des Stiftungsrats in einem Communiqué mit, der 48-jährige Giancarlo Sergi, der bisherige Exekutivpräsident des nationalen Verbands Swiss Basketball, werde ab 1. September die Verantwortung fürs Ballet Béjart übernehmen. „Ich danke dem Stiftungsrat für das mir entgegengebrachte Vertrauen“, lässt der Gewählte verlauten. Und: „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Gil Roman und allen BBL-Mitarbeitern.“

 

Und Gil Roman? Ihm geht damit ein alter Wunsch in Erfüllung. Vor sechs Jahren sagte er im Film, ihn interessiere eigentlich nur der Tanz und die Arbeit mit der Kompanie. Geldbeschaffung, Gremienarbeit, Networking seien nicht seine Sache und verlangten Überwindung: „Ich war immer stark in mich gekehrt“ (sauvage). Vom 1. September an kann nun der Künstler den Ausser­künstlerischen das Ausserkünstlerische überlassen.

 

Frau Peachum: So wendet alles sich am End zum Glück. So leicht und friedlich wäre unser Leben, wenn die reitenden Boten des Königs immer kämen.

 

(Bertolt Brecht: die Dreigroschenoper)

 

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