Slava Bykov: Hockeyspieler, Mann des Zentrums.

24 Juli 1960 –

 

Aufgenommen am 29. Januar 2018 in Renens.

Slava Bykov – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Zur Zeit der Aufnahme ist Wjatscheslaw Arkadjewitsch Bykow (für Insider, Freunde und Welschsprachige: Slava Bykov) 57 Jahre alt. Die Liste seiner Siege ist endlos. Die Namen der Clubs, für die er als Eishockeyspieler aber- und aberhundert Tore schoss, und die Namen der Mannschaften, die er als Trainer an die Spitze brachte, nötigen jedem Zeitgenossen Respekt und Anerkennung ab. – Wer indessen noch nie eine Eishalle gesehen und noch nie eine Sportseite aufgeschlagen hat, kommt während des Gesprächs mit dem personifizierten Über-Ich hauptsächlich zur Einsicht: „Freud hatte recht.“ <

 

Am 24. Juli 1960 wird Slava Bykov geboren. Im Gespräch mit Thomas Epitaux-Fallot beschreibt er in den „Plans Fixes“, welch behütete Jugend er in der Sowjetunion genoss. Die Mutter war fleissig und liebevoll; der Vater ein Vorbild.

 

Der Schneider arbeitete unablässig. „Wenn ich erwachte, traf ich ihn an seiner Singer-Nähmaschine an“, erkärt der 57-jährige Eishockeystar mit Bewun­derung. „Er brauchte nur eine Nacht für einen ganzen Anzug, bestehend aus Hose, Veston und Gilet.“ Bald brachte der Vater die Familie zu bescheidenem Wohlstand. Er konnte sich ein Auto leisten. Doch dann tauschte er das Fahrzeug gegen ein Haus ein. Denn: „Die Familie ist heilig. Das habe ich von meinem Vater gelernt und meinen Kindern weitergegeben.“

 

Heilig war auch die Gemeinschaft. Slava Bykov spricht mit Ehrfurcht von „Lenins Utopie einer klassenlosen, solidarischen Welt“. In der sowjetischen Schule wurde den Kindern nicht „Ich-Stärke“ beigebracht, sondern Kamerad­schafts­­sinn. Wenn es dem Kollektiv gut geht, geht es allen gut.

 

Lob des Kommunismus

 

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.

Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.

Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.

Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig.

Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.

Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen

Wir aber wissen:

Er ist das Ende der Verbrechen.

Er ist keine Tollheit, sondern

Das Ende der Tollheit.

Er ist nicht das Chaos

Sondern die Ordnung.

Er ist das Einfache

Das schwer zu machen ist.

 

(Bertolt Brecht)

 

Weil der Kommunismus „nicht das Chaos“ bringt, sondern „die Ordnung“, hat bei ihm alles seinen geregelten Gang. Slava wächst in einer strukturierten Welt auf. Sie gibt ihm Sicherheit. Beim Eishockeyspielen ist nicht das Siegen die Hauptsache, sondern das Team-Erlebnis – und der Rausch, übers Eis zu gleiten und Resultate erzielen durch das, was man am liebsten tut und am besten kann.

 

Werte und Konzepte lernen die Kinder durch Erziehung.

 

Was ein Kind gesagt bekommt

 

Der liebe Gott sieht alles.

Man spart für den Fall des Falles.

Die werden nichts, die nichts taugen.

Schmökern ist schlecht für die Augen.

Kohlentragen stärkt die Glieder.

Die schöne Kinderzeit, die kommt nicht wieder.

Man lacht nicht über ein Gebrechen.

Du sollst Erwachsenen nicht widersprechen.

Man greift nicht zuerst in die Schüssel bei Tisch.

Sonntagsspaziergang macht frisch.

Zum Alter ist man ehrerbötig.

Süssigkeiten sind für den Körper nicht nötig.

Kartoffeln sind gesund.

Ein Kind hält den Mund.

 

(Bertolt Brecht)

 

Am Ende der Erziehung steht die Selbstüberwindung: „Ich habe meine Emotionen im Griff“, sagt Slava Bykov.

 

Wie er mit der sowjetischen Nationalmannschaft zum ersten Mal in den Westen kommt und durch Montreal fährt, staunt er über den Glanz der Strassen und Schaufenster, bemerkt aber auch „the homeless“, die auf einem Stück Karton übernachten. Im Film erklärt er: „Obdachlose gab es bei uns nicht. Wer nicht arbeiten wollte, wurde von Inspektoren ausfindig gemacht und in eine Institution gebracht.“ So war das im Sozialismus. Der Staat sorgte für Ordnung. Slava Bykov fand das richtig.

 

„Russland braucht an der Spitze einen starken Mann“, erklärt er jetzt. „Anders geht es nicht. Einer muss sagen, wo’s langgeht.“ Für den erfolgreichen Spieler und Trainer gilt diese Gesetzlichkeit ebenso für eine Sportmannschaft, eine Balletttruppe, ein Sinfonieorchester wie für ein Land.

 

Im Januar 2018 endet die Begegnung mit Slava Bykov mit diesem Statement. Unterdessen hat er es konkretisiert. Laut Wikipedia rechtfertigt Bykov im russischen Online-Portal „Absatz“ den Ukrainekrieg. Er „verteidigt die Handlungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und spricht von ‚einem grossen patriotischen Krieg, um den russischen Geist zu stärken und die alte Sowjetmacht wiederzuerlangen‘“.

 

Für den Psychoanalytiker ist das folgerichtig.

 

Bezogen auf unseren Fall finden sich im Werk Sigmund Freuds die folgenden Sätze:

 

Das Ich entwickelt sich von der Triebwahrnehmung zur Triebbeherr­schung, vom Triebgehorsam zum Triebhemmung. („Ich habe meine Emotionen im Griff.“)

 

Der Elterneinfluss regiert das Kind durch Gewährung von Liebesbewei­sen und durch Androhung von Strafen, die dem Kinde den Liebesverlust beweisen und an sich gefürchtet werden müssen. Diese Realangst ist der Vorläufer der späteren Gewissensangst. An die Stelle der Elterninstanz tritt das Über-Ich, welches nun das Ich genauso beobachtet, lenkt und bedroht wie früher die Eltern das Kind. Wie das Kind unter dem Zwange stand, seinen Eltern zu gehorchen, so unterwirft sich das Ich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs. („Einer muss sagen, wo‘s langgeht.“)

 

Vom Standpunkt der Triebeinschränkung, der Moralität, kann man sagen: Das Es [der sinnliche Mensch] ist ganz amoralisch, das [bewusste] Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich [die Norm] kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das Es. („Russland braucht an der Spitze einen starken Mann.“)

 

Im Laufe der Entwicklung nimmt das Über-Ich auch die Einflüsse jener Personen an, die an die Stelle der Eltern getreten sind, also von Erziehern, Lehrern, idealen Vorbildern. Es entfernt sich normalerweise immer mehr von den ursprünglichen Elternindividuen, es wird sozusagen unpersönlicher. („Lenins Utopie einer klassenlosen, solidarischen Welt.“)

 

So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Weg über Generationen fortgepflanzt haben. („Die Familie ist heilig. Das habe ich von meinem Vater gelernt und meinen Kindern weitergegeben.“)

 

Sie erraten leicht, welch wichtige Hilfen für das Verständnis des sozialen Verhaltens des Menschen, zum Beispiel für das der Verwahrlosung, vielleicht auch welche praktischen Winke für die Erziehung sich aus der Berücksichtigung des Über-Ichs ergeben. („Wer nicht arbeiten wollte, wurde von Inspektoren ausfindig gemacht und in eine Institution gebracht.“)

 

Was lässt sich daraus lernen?

 

Denken Sie an eines, und es wird Ihnen helfen – was immer Sie von ihm als Person halten mögen und was immer seine Anhänger getan oder nicht getan haben, Freud hatte recht. Dies ist ein Prüfstein, den Sie immer in Ihrem Geldbeutel tragen sollten, und verwenden, sobald der herkömmliche Verstand aussetzt.

 

Cyprian St Cyr: Briefe an die Bedienerin meiner Frau.

 

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