Jacqueline Veuve: Cineastin.

29. Januar 1930 – 18. April 2013.

 

Aufgenommen am 5. November 2010 in Les Monts-de-Corsier.

Jacqueline Veuve – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Jacqueline Veuve hatte schon zehn Filme gedreht; doch die Aufnahme in den Club der Schweizer Cineasten wurde ihr verweigert. „Andere kamen mit einem einzigen Film hinein“, erklärt die 80-jährige. „Aber das Filmgewerbe ist frauenfeindlich. Ich kann damit leben. Das Alleinsein ist für mich kein Unglück.“ Gleichwohl kam ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm „La Mort du grand-père“ 1978 ans Filmfestival von Locarno, und 1998 erhielt sie mit dem „Journal de Rivesaltes 1941–1942“ den Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm. <

 

Die Bilanz ihres 45-jährigen Arbeitslebens steht in Wikipedia:

 

Insgesamt hat Jacqueline Veuve 14 abendfüllende Filme realisiert, darunter auch einige Spielfilme (Parti sans laisser d’adresse 1982; L’Évanouie 1992). Hinzu kommen über 30 Filme mittlerer Länge sowie ein gutes Dutzend Kurzfilme. Sie gehört damit zu den produktivsten Filmschaffenden der Schweiz.

 

Als verheiratete Frau und als Mutter zweier Kinder hätte es Jacqueline Veuve nicht so weit gebracht, wären ihr nicht zwei Eigenschaften zugute gekommen: Praktischer Sinn und zupackendes Temperament. Beides hat sie wohl von den Vorfahren geerbt.

 

Der Grossvater, mittellos aus dem Jura ins Waadtland eingewandert, gründete in Lucens eine Fabrik für Präzisions­steine, die in ihrer besten Zeit zweihundert Menschen beschäftigte. Doch nach seinem Tod ging es bergab. Die Firma wurde liquidiert. Die Mitarbeiten­den kamen auf die Strasse. In ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm „La Mort du grand-père“ spürte Jacqueline Veuve dieser Geschichte nach und machte aus der Niederlage des Unternehmens ihren ersten filmischen Triumph.

 

Viele haben sich schon gefragt, auch Nietzsche: „Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur Tat?“ Die Antworten sprechen von Intuition, göttlicher Einhauchung, innerer Stimme, günstigen Vorzeichen … Doch in Wirklichkeit ist es einfacher, nüchterner, pragmatischer.

 

Wenn in den 1980er Jahren der grauhaarige Wiener Psychoanalytiker und Facharzt für Psychatrie seine Ordination an der Ölzeltgasse 1 verliess und durch den Stadtpark ins Café Prückel spazierte, wurde er häufig von jungen Menschen angesprochen, die ihm ihre Probleme schilderten und fragten, ob sie nicht gescheiter etwas anderes machen würden. Der erfahrene Seelenarzt hörte schweigend zu, und dann sagte er mit einem auffordernden Lächeln: „Tu’s doch!“

 

„Tu’s doch!“ Das erfuhr auch Jacqueline Veuve, als sie mit vierzig Jahren das Massachusetts Institute of Technology (MIT) aufsuchte, um beim Dokumentarfilmer Richard Leacock zu arbeiten. Er befasste sich mit der Ausbildung von Studenten.

 

„Er machte das ganz einfach“, erzählt Jacqueline Veuve. „Er stellte die jungen Leute zu Zweierteams zusammen, gab ihnen eine Kamera und ein Tonbandgerät, und schickte sie hinaus: ‚Filmt, was ihr seht, und bringt es zurück!‘ Dann wurden in der Klasse die Sequenzen angeschaut, analysiert und kommentiert. Richard Leacock arbeitete dabei immer am Konkreten. Theorie gab es nicht.“

 

Jacqueline Veuve erlebte dieses Verfahren als ungeheure Ermutigung. Als sie nach zwei Jahren in die Schweiz zurückkehrte, hatte sie ihr Ziel: „Tu’s doch!“

 

Zugut kam ihr, dass der Leiter der Genfer Volksschul-Oberstufe (Cycle d‘orientation) an den Film als Unterrichtsmittel glaubte. In seinem Auftrag verfilmte Jacqueline Veuve vor allem Geschichtsthemen. So perfektionierte sie mit den Jahren das Handwerk. Ihr Team war klein. Es bestand aus ihr, der Regisseurin, einem Kamera- und einem Tonmann. Manchmal trat, beratend, auch ein Geschichtslehrer bei.

 

Mit der Zeit entwickelte Jacqueline Veuve ein Gespür für vernachlässigte Themen. Von ihr stammt der erste Film über die Schweizer Rekrutenaus­bildung: „L’Homme des casernes“ (1994). „Als er fertig war, bestellte mich der Armeechef nach Bern, um mir zu zum Film gratulieren. Auf der anderen Seite verwendete ihn die Linke für ihre pazifistische Propaganda. Das zeigt, dass meine Darstellung stimmte.“

 

Zweimal beschäftigte sich Jacqueline Veuve mit der Judenverfolgung in Frankreich. Im „Journal de Rivesaltes 1941–1942“ erkundete sie das Lager mit dem Namen „Centre inter-régional de rassemblement des Israélites“, in dem die Vichy-Regierung die Juden zusammenbrachte, um sie in vorauseilendem Gehorsam den Deutschen zu schicken, die sie zur Vernichtung ins Konzentra­tions­lager Auschwitz spedierten.

 

Der andere Film zur Judenfrage in Frankreich, „La Filière“, folgt dem gleichnamigen Buch von > Anne-Marie Im Hof-Piguet. Als Mitarbeiterin des Kinderhilfswerks des schweizerischen Roten Kreuzes in Frankreich hatte die junge Frau eine Kette aufgezogen, um gefährdete jüdische Menschen in die Schweiz zu bringen. Es gelang ihr, Mithelferinnen zu mobilisieren. In waldigem Gelände auf Schweizer Boden holte der Vater, der Forstinspektor Henri-Joseph Piguet, die Flüchtlinge ab, und die Mutter begleitete sie zum Flüchtlingspfarrer Vogt nach Zürich.

 

Wenn man die 80-jährige Jacqueline Veuve in den „Plans Fixes“ von ihrer Arbeit reden hört, merkt man bald, dass sie für das Bohren dicker Bretter (sprich: die Realisation von Filmprojekten) nicht auf flotte Sprüche zurückgriff, sondern auf Pragmatismus: „Zuerst stellt sich die Frage der Geldbeschaffung“, erklärt sie. „Und Aquarius Films?“, will Bertil Galland, der Interviewer, wissen. „Ach, das ist nichts!“, erwidert die Cineastin. „Ich brauchte nur einen Namen, um Sponsoren zu finden. Mit einer Agentur sah das besser aus. Ich konnte ja nicht gut als Jacqueline Veuve auftreten: Bitte geben Sie mir Geld!“

 

Wenn das Geld zusammengekommen ist, entsteht der Film – zumal der Dokumentarfilm – nach seinen eigenen Gesetzen. Man muss einfach wach sein, um zu merken, worauf das Ganze hinauswill, und dranbleiben.

 

Der Betrachter, der selber keine Filme schafft, kommt zur Einsicht: So verhält es sich eigentlich mit den meisten Dingen.

 

Wie sagt die Theorie?

 

Fange an, denn angefangen haben, das ist schon die Hälfte der Arbeit; bleibt noch eine Hälfte: Packe auch diese an, und du wirst ans Ziel gelangen.

 

(Ausonius, 310–394: Epigramme.)

 

Die Praxis entgegnet:

 

Dienstag, den 21. März 1780: Ich faulenzte bis gegen 9 Uhr. Es währte auch noch länger, ehe ich wirklich zum Arbeiten kam. Ich habe zweierlei Arten von Faulheit.

 

In dem einen Zustande habe ich keine Lust, etwas zu tun, ich durchdenke alle Gattungen von Arbeit, und es gefällt mir keine einzige darunter. In dem andern Zustande will ich freilich arbeiten, aber zuweilen nur jetzt nicht: ich muss noch eine halbe Stunde, eine Viertelstunde, 5 Minuten warten, unterdessen noch ein wenig blättern, oder ich muss eine Arbeit tun und will noch eine andere vorher tun, oder ich kann mich unter zwei Arbeiten nicht entschliessen, worüber mir mancher schöne Tag verflogen ist.

 

Das Podagra ist jetzt meine Dulcinea.

 

(Johann Anton Leisewitz, 1752–1806: Tagebücher.)

 

Die Lösung liegt hier:

 

Bei Ausarbeitungen habe vor Augen: Zutrauen auf dich selbst, edlen Stolz und den Gedanken, dass andere nicht besser sind als du, die deine Fehler vermeiden und dafür andere begehn, die du vermieden hast.

 

(Georg Christoph Lichtenberg, 1742–1799: Sudelbücher.)

 

 

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