Jacques Guhl: Bälle und Gedichte.

23. Oktober 1922 –

 

Aufgenommen am 1. Februar 2013 in Sitten.

Jacques Guhl – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> In Abweichung von der Regel wird das Gespräch mit dem Neunzigjährigen vielfach zerschnitten. Die Fragen fallen weg. Der Film bringt die Antwort­elemente in dichter Folge. Dazwischengeschnitten sind Fotos, die das Gesagte illustrieren, und einige Gedichte, die der Hochbetagte auswendig rezitiert. Der Informationsgehalt des Porträts ist hoch und verlangt Konzentration. Doch in der Abbreviatur eines langen Lebens zeigt der Film: Bei Jacques Guhl kreuzten sich das Literatur-, das Theater- und das Fussballgeschehen der Westschweiz. <

 

In einem Monat kann Jacques Guhl den hundertsten Geburtstag feiern. Ein reiches Leben liegt hinter ihm. Es führte ihn zu Poesie und Drama: Mit 25 veröffentlicht er den Gedichtband „Mains ouvertes“. Mit 27 den Roman „Hors-jeu“ (Off-side). Mit 36 die Theaterstücke „Napoléon tropique“ und „L’oeuf de coq“ (Das Hahnenei), beide inszeniert von seinem Sportsfreund und Trainingskollegen, der Theaterlegende Charles Apothéloz.

 

Mit 26 bringt er mit > Freddy Buache, > Charles-Henri Favrod und Charles Apothéloz „Les faux nez“ auf die Bretter, ein Stück von Jean-Paul Sartre, das in der Folge der Truppe den Namen gibt und zwölf Jahre später einem Theaterhaus, das bis heute in Lausanne existiert. Und stets gehört Jacques Guhl zu den treibenden Kräften. Auf ihn geht auch „Le Petithéâtre de Sion“ zurück, das der 53-Jährige 1975 ins Leben gerufen hat.

 

Daneben beginnt er Drehbücher zu verfassen. Als er 58-jährig ist, erscheint sein Fernsehfilm „Ce fleuve qui nous charrie“ von Télévision Suisse Romande und France 3 (1980). „Er bot > Jean-Luc Bideau eine seiner schönsten Rollen“, erklärt Joël Aguet im Theaterlexikon der Schweiz. Als Jacques Guhl 66 Jahre zählt, verfilmt François Reusser dessen Krimi-Drehbuch „La Loi sauvage“ (1988).

 

Reich werden indes kann man in der Westschweiz nicht mit Literatur und Theater. Jacques Guhl erzielt ab 1964 sein Einkommen als Direktor der Weinfirma Charles Bonvin in Sitten. Sie führt ihn ins Geschäftsfeld von > Michel Logoz, dem Botschafter des Weins. Auf ihn gehen dreissigtausend (vielfach noch heute verwendete) Etiketten zurück.

 

Aber bekannt kann man mit dem Weinhandel nicht werden. Dafür braucht es den Fussball. Als Profispieler ist Jacques Guhl Mittelstürmer bei Lausanne-Sports und bei der Etoile sportive Malley. 1957 gründet er mit 35 die Ecole de football de Sion. Und mit 42 leitet er 1964 die Schweizer Nationalmannschaft als Trainer a.i.

 

Einen grossen Einfluss auf Jacques Guhls Auffassung von Fussball hat der Schweizer Nationalspieler Franky Séchehaye. Er betreibt in Lausanne ein Tearoom, in dem sich die jungen Leute treffen. Für Jacques wird er zum Mentor. Der Ältere spricht dem Zwanzigjährigen zu, als die Rekrutenaushebung seine Spielerkarriere für drei Jahre unterbricht: „Betrachte den Militärdienst als Fussball-Training! Ihr werdet euch oft besammeln müssen. Schau, dass du immer der erste bist. Du hast das Glück, gross zu sein. Darum werden sich die anderen um dich scharen, und du wirst lernen, das Spiel zu dirigieren.“

 

Die Worte kamen aus berufenem Mund. Schon Frankys Vater gehörte zu einer Elite, wenn auch nicht der sportlichen. Er war Professor für Linguistik an der Universität Genf. In dieser Eigenschaft wurde er 1943 zum Mentor für den 22-jährigen Berner Studenten Roland Donzé. Der war wegen eines Militärunfalls aus dem Heeresdienst entlassen worden. Doch sein Professor verwies ihn gleich weiter nach Genf.

 

Karl Jaberg meinte: „Die Arbeit, die Sie mir geschickt haben, zeigt deutlich, dass Logik Ihre Stärke ist. Deshalb müssen Sie unbedingt noch ein Jahr bei Albert Séchehaye studieren. Anschliessend lasse ich Sie zum Staatsexamen zu. Hier haben Sie einen Empfehlungsbrief. Aber passen Sie auf: Séchehaye unterrichtet nicht jedes Semester!“ Und warum? Mangels Studenten. Der Professor verschwieg diesen Grund. Dem renommiertesten Logiker im französischen Sprachraum ging es nicht besser als Einstein an der ETH Zürich: Seine Ausführungen waren den „ordentlichen Hörern“ zu hoch.

 

Vielleicht dozierte Séchehaye auch ungern. Jedenfalls sprach er abscheulich schnell und vertrieb so die drei Mediziner, die anfangs mit Donzé zusammen im Hörsaal waren, innert dreier Wochen. Damit sass Donzé in der Falle: Wenn er jetzt wegblieb, und sei es bloss ein einziges Mal, war es mit der Vorlesung aus – und mit dem Genfer Jahr auch. So blieb er sitzen und wartete Séchehayes Auftritt ab.

 

Beim Anblick Donzés blieb der Professor erstaunt stehen: „Sie wollen die Vorlesung weiter besuchen?“ – „Ja.“ – „Darf ich fragen, aus welchem Grund?“ – „Professor Jaberg aus Bern hat mich zu Ihnen geschickt.“ – „Ah so. Davon weiss ich nichts.“ Jetzt war der Moment gekommen, das Empfehlungsschrei­ben zu überreichen, das Donzé bisher in der Mappe behalten hatte, um das Inkognito (und damit die Freiheit) zu bewahren.

 

Séchehaye überflog den Brief: „Wollen Sie in Bern Logik unterrichten? “ – „Nein, das Fach existiert nicht bei uns. Ich werde Französisch und Italienisch geben.“ – „Gut. Dann kann ich Ihnen von Nutzen sein. Ich empfehle Ihnen, die Logik, die Sie bei mir lernen, auf die Sprache anzuwenden. Dann bekommen die Schüler doch eine Ahnung von dem, was Denken ist ... Nun, lieber Herr Donzé, werde ich mit der Vorlesung noch einmal von vorne beginnen und jeden Schritt ausführlich diskutieren. Sind Sie eigentlich bis jetzt mitgekom­men? Haben Sie mir folgen können?“ – „Nicht wirklich.“ – „Macht nichts. Hören Sie mir einfach zu und schweifen Sie mit den Gedanken nicht ab. Wenn Sie in der Logik angekommen sind, werde ich das schon merken.“

 

Damit begann eine Phase der totalen Immersion. Nachdem Séchehaye nach der Vorlesung gefragt hatte, ob Donzé Lust auf einen Spaziergang habe, setzte er den Unterricht nach den üblichen neunzig Minuten noch gute zwei Stunden im Parc des Bastions fort, und das nicht bloss an einem, sondern an zwei Tagen pro Woche. In diesen Extrastunden vor der Universität wandelte der Professor unaufhörlich perorierend in der Allee zwischen den Toren zur Place Neuve und zur Rue Saint Léger auf und ab, und Donzé musste ihm dazu den Hut tragen, was ihm bei den Kommilitonen den Übernamen „Séchehayes Lakai“ eintrug. Aber das kümmerte ihn nicht. Der Zweck des Genfer Jahrs lag für ihn ausschliesslich darin, die Materie verstehen zu lernen, die ihm der Professor vortrug. Manchmal glaubte er, es beginne hie und da zu dämmern; gewisse Operationen hatten ein bekanntes Aussehen. Doch in Wirklichkeit ging es länger als ein Semester, bis der „Klick“ passierte und sich Donzé „drin“ befand – im Verständnis und in der Beherrschung des logischen Denkens.

 

Der Durchbruch war über Nacht erfolgt, und Séchehaye merkte ihn, wie vorausgesagt, seinem Schüler am nächsten Tag an: „Nicht wahr, mein Lieber, Sie verstehen jetzt jede Einzelheit, von der ich mit Ihnen spreche? Gut.“ Ab jetzt trug Séchehaye nicht mehr vor, sondern er unterrichtete im Dialog. Er stellte ein Problem und forderte Donzé auf, daran zu arbeiten: „Argumentez!“ Er hörte den Darlegungen schweigend zu und nickte am Schluss: „Gut.“ Dann drehte er die Hand um. Das bedeutete: „Und jetzt beweisen Sie das Gegenteil!“ So entfaltete sich buchstäblich im Handumdrehen das dialektische Spiel. Séchehaye unterbrach Donzés Argumentation nie. Die Ketten wurden immer länger, kühner, raffinierter, und die Resultate immer bedeutender, aussagekräftiger, überraschender – manchmal auch bloss aus dem Grund, dass Donzé ein Fehler unterlaufen war. Séchehaye hatte ihn längst bemerkt und fragte nun: „Wo?“ Donzé musste den umgekehrten Weg gehen, vom Resultat her Glied um Glied zurück, bis er den Fehler bemerkte: „Da!“, rief er dann und stach – noch wenn er als Greis davon erzählte – mit dem Zeigefinger triumphierend in die Luft.

 

Mit diesen Übungen bildete sich ein enges Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler heraus, enger jedenfalls als das Verhältnis des Logik-Professors zu Franky, der nicht Akademiker, sondern Torwart der Schweizer Nationalmann­schaft geworden war. Dem Vater war es stets peinlich, auf den Sohn angesprochen zu werden, aber nicht aus heimlicher Rivalität (die lag ihm fern), sondern weil er daraus den Vorwurf heraushörte, Franky habe es zu nichts gebracht und sei ein Versager.

 

Bei Betrachtung dieser Lebensläufe zeigt sich: Das Entscheidende geschieht in den ersten dreissig Jahren. Da bilden sich die Freundschaften, von denen der Altwerdende zehrt.

 

Im Rückblick auf sein Leben erklärte der 80-jährige Karl Viktor von Bonstetten 1826:

 

In den lichtvollen Tagen, in denen wir heute leben, setzen wir den geringsten Ehrgeiz darein, einen Freund zu haben. In weniger glückli­chen Zeiten schätzte man die Freundschaft höher, weil man das Bedürfnis danach stärker empfand. Auch die wahre Liebe gedeiht und wächst im Unglück. Die Zivilisation, die dazu neigt, die übersteigerten Gefühle zu egalisieren und nach und nach auszulöschen, sollte der Freundschaft und der Liebe Gnade erweisen: Jätet der gute Bauer nicht zum Nutzen des Guten das Unkraut aus? Weit davon entfernt, die Wohltaten der Freundschaft zu vergessen, sollte man in glücklichen Tagen diese Herzensgabe mit Sorgfalt, ich möchte fast sagen: mit Andacht, pflegen. Indem sie uns lehrt zu lieben, mindert sie die Übel des Lebens und verdoppelt die Freuden. Wie viel Glück, wie viel Ruhe verdanke ich der Pflege der Freundschaft! Das Wenige, das ich noch wert bin, verdanke ich der Freundschaft. Bonnet, Gray, Müller, Friederike Brun! Euch verdanke ich das Glück meines Lebens.

 

Wir können annehmen, dass Jacques Guhl zu diesen Zeilen nicken wird, wenn er in einem Monat den hundertsten Geburtstag feiern wird.

 

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