Gérard Forster: Gewerkschafter.

24. Februar 1941 – 4. Juni 2007.

 

Aufgenommen am 24. Januar 2007 in Ecublens.

Gérard Forster – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Im ersten Augenblick wirkt die Szene paradox: Gérard Forster spricht vom Krebstod der Frau; und auf seinem Gesicht erscheint ein Lächeln. Es zeugt von der Liebe, die aus dem Kampf gegen das Sterben erwuchs – beim damals 49-Jährigen, der Frau, den vier Kindern. Das Sterben der Mutter schweisste die Familie zusammen. Nun drücken sich in Gérard Forsters Lächeln Zärtlichkeit und Dankbar­keit aus. <

 

Nicht ganz fünf Monate nach der Aufnahme für die „Plans Fixes“, in der Gérard Forster von seinen Plänen für die afrikanischen und südamerika­nischen Migranten in Andalusien sprach, meldete die welsche Tageszeitung „Le Temps“ am 5. Juni 2007:

 

Gérard Forster ist im Alter von 66 Jahren plötzlich an einem Herzstillstand gestorben. Rund dreissig Jahre lang war er eine herausragende Figur des Westschweizer Gewerkschaftswesens. Energisch, entschlossen, grosszügig, gutmütig, verstand er es, die Lacher und die Medien auf seine Seite zu ziehen. So verkörperte er eine Form des „schlagfreudigen“ Gewerkschaftswesens, dessen Chronik aus donnernden Baustellenbesetzungen und Razzien in den frühen Morgenstunden bei unwilligen Arbeitgebern bestand.

 

Der unvermutete Tod ist ein wichtiges Thema im Leben des Gewerkschafts­führers. Als Kind, erzählt er im Film, sei er ängstlich gewesen. Nachts vor dem Einschlafen habe er zu errechnen versucht, wie lange seine Eltern noch leben würden. Und er sagte sich: „Wieder ein Tag weniger. Dann habe ich sie nicht mehr.“

 

Die Angst jedoch behielt er für sich. Denn in der Familie wurde nicht gesprochen. Schweigend nahmen der Vater, die Mutter und die fünf Kinder die Mahlzeiten ein. Wohlwollen und Zusammengehörigkeit wurden zwar empfunden, aber nicht ausgedrückt.

 

Das Schweigen ging vom Vater aus. Die Mutter war greifbarer. Sie managte den Haushalt. Sie schickte die Kinder zur Schule. Sie legte das Geld beiseite, Rappen um Rappen, damit die Familie einmal pro Jahr eine Woche Ferien machen konnte, meist im Tessin.

 

„Wir waren arm“, erzählt Gérard Forster. „Aber da es in Le Locle ausser ein paar Reichen (den Unternehmern) nur Arme gab, belastete uns das nicht. Wichtig war, dass wir uns als Menschen trotzdem anerkannt fühlten.“

 

Der Junge ging ungern zur Schule. Die Pflicht, neben vielen andern reglos in einer Bank sitzen zu müssen, empfand er als Einengung. Im Arbeitsprozess dagegen erblickte er die Freiheit: „Der Arbeiter kann sich um seine Maschine herum bewegen. Wenn sie einmal eingestellt ist und richtig läuft, kann er zu den Kollegen gehen und schwatzen.“

 

Dem Jungen ging es freilich nicht ums Schwatzen. Er schwieg lieber. Darum entsprach ihm die Typographenlehre. Da ging es um die Wiedergabe des geschriebenen Worts. Das gesprochene Wort praktizierte er nicht. Als er seine spätere Frau und ihre redefreudige Familie kennenlernte, fragten deren Eltern: „Hat dein Freund keine Zunge? Er sagt nie etwas!“

 

Bei dieser Gelegenheit ging Gérard auf, dass er noch nie etwas mitzuteilen gehabt hatte. Nun half ihm die Zuwendung der Freundin, das Innere nach aussen zu bringen, und das heisst: zu den andern.

 

Zuhause aber verzehrte der schweigsame Vater wie jeden Morgen das Frühstück, ging wie jeden Morgen zur Arbeit, bog dann aber rechts ab statt links – und warf sich vor den Zug. „Wir hatten ihm nichts angemerkt“, sagt Gérard Forster.

 

Das Erlebte kommt nun ins Buch, das er nach seiner Pensionierung zu schreiben beginnt. Es spricht nicht nur von der Gewerkschaftsarbeit, sondern allgemein vom Leben mit seinen vielen Facetten. Der Text wird auch zur Hommage an Danielle, die Frau seines Lebens, die er 1993 verloren hat, und er berichtet vom endlosen Kampf gegen die Drogensucht einer seiner Töchter.

 

Bei der Filmaufnahme ist die Tochter clean. Nach 18 Jahren. Es ging nicht ohne Zwang. Die Behörden stellten die Frau, die mittlerweile ein Kind bekommen hatte, vor die Frage: Entweder zurück ins Gefängnis oder in eine Institution! Gérard Forster äussert sich nachdenklich: „Krebs und Drogen lassen die Beziehungen erodieren. Jetzt müssen wir sanft zuwege gehen und nichts überstürzen.“

 

Aufbauen also. Mit 66 will Gérard Forster etwas tun für die rechtlosen, ausgebeuteten Arbeitskräfte in Andalusien. Die Immigranten stammen aus Afrika und Südamerika. Viele leben unter Plastikfolien, ohne Wasser, ohne Strom, ohne Toiletten. Andere können in Zweizimmerwohnungen schlafen; pro Zimmer sieben Mann. „Die Solidarität ist immens. Diese Menschen haben eine hohe Würde.“

 

Während drei Monaten studiert Gérard Forster die Lage. Dann kommt er zum Schluss: „Gewerkschaftsarbeit ist hier unmöglich.“ In Almeria nehmen die Gewächshäuser eine Fläche von 40’000 Fussballfeldern ein. 80’000 Arbeiter sind 30’000 Patrons unterstellt. „Migros und Coop, die Abnehmer der Produkte, könnten etwas bewirken. Aber ich?!“

 

Trotzdem träumt Gérard Forster von der Errichtung eines Migrantenheims. Theoretisch. „In der Praxis aber wird jeder Bürger­meister, der das Land dafür zur Verfügung stellt, erschossen oder abgewählt. Sie können sich den Rassismus nicht vorstellen, der dort unten wütet.“

 

Gérard Forster aber, dem Gewerkschafter und Macher, geht es bis zum Schluss um das tägliche Brot, das würdevolle Dasein, das erfüllte Leben. Neben all den beeindruckenden Philosophen, Künstlern, Intellektuellen und Gelehrten, die von den „Plans Fixes“ porträtiert werden, erinnert sein Wirken an Goethes Satz:

 

Nachdenken und Handeln verglich einer mit Rahel und Lea: die eine war anmutiger, die andere fruchtbarer.

 

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