Francine Simonin: Malerin und Graveurin.

2. Oktober 1936 – 9. Oktober 2020.

 

Aufgenommen am 23. August 1989 in Pully.

Francine Simonin – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Im Vorspann kündigen die „Plans Fixes“ bei ihren Filmporträts jeweils den Modus der Aufnahme an. Es ist stets derselbe: „Ein Gespräch ohne Reprisen und Schnitte.“ Die Wahrheit dieser Deklaration zeigt sich am Film mit dem Vater einer drogensüchtigen Tochter. Einmal – ein einziges Mal – rutscht ihm deren Vorname heraus. Der Versprecher steht nun für alle Zeiten ungeschnitten im Netz. Und für alle Zeiten ist bei Francine Simonin festgehalten, dass die 53-jährige Künstlerin eine Kettenraucherin ist, der es während der Aufnahme gelingt, den Aschenbecher mit Kippen zu füllen. <

 

Der norddeutsche Philosoph Johann Georg Hamann (er beeinflusste den Sturm und Drang, Goethe und die Romantiker) formulierte in seinen „Kreuzzügen des Philologen“ eine abgekürzte Kunsttheorie, eine „aesthetica in nuce“. Die dunkle Sprache des Sehers und Künders (die Zeitgenossen nannten ihn „Magus im Norden“) muss man indes übersetzen, damit das Gemeinte fassbar wird. Das Verstehen legt dabei den umgekehrten Weg zurück, der beim Reden abläuft:

 

Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschen­sprache, das heisst, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, historisch oder symbolisch oder hieroglyphisch – und philosophisch oder charakteristisch sein können. Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgendeine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein.

 

Die Vorstellungen im Innern, die durch ihr unerklärliches, unkontrollierbares Zustandekommen einen höheren Ursprung annehmen lassen (die Alten sprachen von göttlicher Einhauchung [Inspiration], Hamann von „Engelsprache“) werden durch die Sprache nach aussen gebracht („geäussert“) – und damit für andere vernehmbar.

 

Bei dieser Verschiebung (Translation) von einer Sphäre in die andere verwandeln sich „Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen“. Dadurch verändert sich die Vorstellung. Die Sprache mischt den Inhalten eine Beleuchtung bei, „die poetisch oder kyriologisch“, also dichterisch oder heilsverkündend anmuten kann. Oder „die Worte“ können „historisch“ sein, das heisst traditionell, hergebracht. Ist die Sprache „symbolisch“, muss „das Zeichen“ im übertragenen Sinn aufgefasst werden: Das Brot steht für den „Leib Christi“.

 

Ähnlich verhält es sich bei „Namen“, die „hieroglyphisch“ auftreten: Die Sprache verhält sich bei ihnen als Bildsprache: Das Dreieck bezeichnet die Trinität von Gott Vater, Sohn und heiligem Geist. „Philosophisch“ wird das „Reden“, wenn es Zusammen­hänge herstellt, Sachverhalte erklärt, Begründun­gen liefert. Und „charakteristisch“, wenn es Merkmale wiedergibt: Der Kuckuck. Der Wauwau.

 

Johann Georg Hamanns Auffassung aus dem Jahr 1762 findet sich nun wieder im Gespräch mit Francine Simonin, das die „Plans Fixes“ 1989 festgehalten haben.

 

Die Malerin und Graveurin versucht zu erklären, wie etwas Inneres – ihr Inneres – nach aussen kommt, das heisst aufs Blatt. Sie hat die Auffassung, dass die Darstellung um so reiner wird, je weniger sie beim Akt der Exteriorisation vom Verstand begleitet und beeinflusst wird. Der Pinsel, die Farbe und die malende Hand sollen auf einem Träger gewissermassen automatisch die Bewegung niederlegen, die vom Unbewussten veranlasst wurde und demzufolge als „wahr“ erscheint.

 

Die Künstlerin fasst dabei nicht nur die Utensilien, sondern auch sich selbst als Medium auf, durch das etwas Grösseres, Tieferes und Wesentlicheres spricht als die blosse Banalität des Tages.

 

„Ihr Werk kann der expressionistischen Strömung zugerechnet werden“ (Son œuvre peut être rattachée au courant expressionniste), erklärt die französischsprachige Wikipedia. (Der spitzzüngige Walther Killy verwendete in seiner achtbändigen Anthologie „Die deutsche Literatur“ für diese Auffassung die Überschrift: „Der sogenannte Expressionismus“.)

 

Für Welt und Nachwelt versuchen jetzt Francine Simonin und die Interviewe­rin Françoise Jaunin zu erklären, welche Antriebe zum Werk führten, um das sich die Galerie > Nane Cailler verdient gemacht hat.

 

Damit stellt der „Entretien“ eine dreifache Übersetzungs­aufgabe: (1) Die Sprache muss die Kunst erfassen, und (2) die Kunst das Menschliche, Seelische, Überzeitliche … (3) Der Filmzuschauer muss durch Tätigkeiten wie Ahnen, Erraten, Interpretieren und Mitschwingen das Gesagte und Gemeinte in Verständnis übersetzen, damit der Inhalt bei ihm ankomme.

 

So ist alles ineinander verflochten. Und Hamann sagte zu recht:

 

Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgendeine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein.

 

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