Madeleine Pont: Eine andere Auffassung von Wahnsinn.

Madeleine Pont: Eine andere Auffassung von Wahnsinn.

9. Mai 1948 –

 

Aufgenommen am 5. Oktober 2018 in Forel.

Madeleine Pont – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Madeleine Pont erzählt, wie ihr Lebenswerk zustandekam: Die Fondation Graap, groupe d’accueil et d’action psychiatrique. Die Stiftung betreibt im Kanton Waadt fünf Begegnungs- und Aktivitätszentren, zwei Restaurants und ein Tearoom. In ihnen geht es um Aufnahme, Hilfe, Betreuung und Zusammenarbeit. Eingeladen sind die psychisch Kranken und ihre Angehörigen. Madeleine Pont macht deutlich, wie wichtig es ist, nicht alleingelassen zu werden. <

 

Nach 45-jähriger Ehe hat R. B. ihren Mann verloren. Die Kinder haben eigene Familien gegründet und wohnen nicht mehr am Ort. Jetzt ist R. B. allein. Anfangs gab der Todesfall viel zu organisieren. Dann aber schlich sich Öde in die Wohnung ein, und ohne es zu merken, rutschte R. B. in die Depression. Heute überfordert es sie, hinauszugehen, Menschen zu treffen, jemanden zu sich einzuladen. Für die, die sie anrufen, ist sie unerreichbar. Einmal im Monat werden R. B. von der Ärztin Pillen verschrieben. Mit ihnen kommt sie durch den Alltag. Sie funktioniert. Aber sie lebt nicht mehr.

 

Madeleine Pont weiss, was Niedergeschlagenheit ist und psychische Krank­heit bedeutet. Niedergeschlagenheit hat sie als junge Frau ein paarmal erlebt. Und die psychische Krankheit ihrer Klientinnen führte sie vor 35 Jahren zur Gründung der Fondation Graap, groupe d’accueil et d’action psychiatrique.

 

Nachdem die Organisation zehn Jahre lief, wurde die seelische Störung von der Berufs- auch zur Familiensache: Eine Krankheit drang in Madeleine Ponts engsten Kreis ein. Es war nicht mehr möglich, einen Strich zwischen dem Arbeits- und dem Privatleben zu ziehen.

 

Die Erkenntnis: „Der Wahnsinn gehört zu uns. Wir alle haben Seiten, die der Kontrolle des Verstandes entgleiten. Aber niemand ist 24 Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche verrückt. Er hat immer auch helle Momente.“ In diesen hellen Momenten dehnt sich das Menschliche aus. Davon erzählt die 70-Jährige in den „Plans Fixes“.

 

Madeleine Ponts Weg ins Erwachsenenleben begann mit einer Reihe von Misserfolgen. Nach der obligatorischen Schulzeit, die sie mit lauter Spitzennoten durchlaufen hatte, versagte sie bei der Aufnahmeprüfung fürs Lehrerseminar. Ihr grosses Vorbild, die Kindergärtnerin von nebenan, tröstete sie: „Das ist nicht schlimm. Du machst die Prüfung nächstes Jahr noch einmal und bist um das reifer.“ Doch beim zweiten und dritten Anlauf fiel sie wieder durch. Damit war ihr der Weg ins Seminar endgültig verbaut. Sie fiel in eine Schockstarre. Bis zum Abend lag sie ausgestreckt auf dem Sofa und konnte sich nicht mehr bewegen.

 

Da kam die Nachbarin und sprach ihr zu: „Das ist nicht das Ende aller Dinge! Wir werden einen neuen Weg finden. Und du wirst sehen: Es ist der bessere!“ Dieser Satz half Madeleine Pont, den Nullpunkt zu durchschreiten, und sie erkannte, wie man gerne sagt, die Krise als Chance.

 

Vorerst verstand es die befreundete Pädagogin, Madeleines Ausbildungsgang aufs Gymnasium umzulenken. Und für das Zwischenseme­ster nach der Matur stellte sie die Weichen nach England für ein Praktikum als Erzieherin. Doch so glücklich dort die junge Frau mit den Kindern war, es ging ihr auch auf, dass es sinnvoller sei, bei der Erziehung weiter vorne anzuset­zen, nämlich bei den Eltern. Deshalb liess sie sich jetzt nicht zur Lehrerin ausbilden, sondern zur Sozialhelferin.

 

In diesem Beruf geriet sie nach vier Jahren Tätigkeit in eine zweite, entschei­den­de Krise. Bei einem Routinegeschäft mit den Gemeindebehörden stiess sie unvermutet auf Ablehnung: „Nein, dieser Familie gewähren wir keine Unterstützung mehr! Der Mann soll endlich eine Arbeit annehmen. Und Sie, Frau Pont, kümmern sich darum, dass die Kinder wegkommen und anderswo versorgt werden!“

 

Der Fall ging Madeleine Pont nahe. Aufschluchzend verliess sie die Sitzung, fuhr weinend nach Hause und weinte die ganze Nacht lang fort. Die Eltern und Kinder der Fürsorgefamilie hatten das gleiche Alter wie sie, ihr Mann und ihre Kinder. Die Ponts waren begünstigt im Unterschied zu den Leuten, mit denen Madeleine beruflich zu tun hatte und bei denen es nicht rund lief.

 

Da kam sie auf den Gedanken, die Betroffenen zusammenzubringen. Sie versammelte die Ehepaare in einer Wohnung, liess sie über ihre Lage sprechen, und unversehens zeichneten sich Lösungen ab: „Ich könnte deine Kinder am Mittwoch hüten.“ „Ich kenne jemanden, der deinen Mann anstellen könnte.“ „Wir könnten euch ein Bett überlassen.“

 

Diese Erfahrung kam Madeleine Pont zehn Jahre später bei der Betreuung psychisch Kranker zugute. Auf den 14. Januar 1987 lud sie ihre Klienten, die einsam vor sich hin litten, zu einer Versammlung ein. Es zeigte sich, dass sich alle bereits kannten, vom Wartsaal des Arztes, von den Gängen und der Cafeteria der psychiatrischen Klinik.

 

An diesem Abend entstand das Graap, als Konzept und als Name, und dazu noch das Projekt einer Zeitung mit dem Titel „Diagonales“. „Wir waren zum Anfangen neun“, erzählt Madeleine Pont, „und nach einem halben Jahr fünfzig.“

 

Als Ziel formulierte die Gruppe:

 

– Die Integration jedes einzelnen in die Gesellschaft fördern.

 

– Die Öffentlichkeit für psychische Probleme sensibilisieren und jedem einzelnen Möglichkeiten bieten, auf sein Umfeld Einfluss zu nehmen.

 

– Alle von einer psychischen Krankheit betroffenen Personen und ihre Angehörigen im Geiste der Selbsthilfe und Solidarität aufnehmen.

 

Zur Eröffnung eines Begegnungsorts kam die Gründung eines Restaurants. „Am Anfang konnten wir nur Büchsen wärmen“, berichtet Madeleine Pont. Aber das Können entfaltete sich. Leute, die sich nicht mehr getraut hatten, von sich etwas zu verlangen, bekamen Zutrauen in sich und die anderen, und bald wussten sie wieder, wofür sie am Morgen aufstanden.

 

Heute betreibt die Fondation Graap zwei Restaurants und ein Tearoom. Dazu Orte zur Begegnung und Selbsthilfe in Lausanne, Yverdon, Vevey, Nyon und Prilly. Das Ziel:

 

– Die Isolation durchbrechen: Aufgenommen werden und Gastfreundschaft erfahren.

 

– Anerkannt werden: Sprechen, sich austauschen, teilen, sich ausdrücken.

 

– Sich dafür einsetzen, dass jenseits der Diagnose jeder seinen Platz an der Sonne findet.

 

Ach, wer nur R. B. aus ihrer einsamen Deutschschweizer Wohnung auf einem Zauberteppich in die Waadt entführen könnte!

 

Frohe Weihnacht!

 

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