Léonard Gianadda: und die Fondation Pierre Gianadda.

23. August 1935 –

 

Aufgenommen am 28. Januar 2008 in Martigny.

Léonard Gianadda – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „Man merkt, du bist kein Bauingenieur!“, rief Professor Dr. H. H. verärgert am Dozententisch, nachdem er mit dem Kulturwissenschafter in einen Wortwechsel geraten war. Für den brillanten Baustatiker gab es nichts Höheres als die Ingenieurbauwerke. Was hätte er wohl zu Léonard Gianadda gesagt? Der Walliser hat mit dreiundvierzig Jahren seine Karriere durch die Errichtung der heute weltberühmten Fondation Pierre Gianadda gekrönt (einem Haus für Skulpturen, Malerei und Musik der Moderne), nachdem er die Mittel dazu aus der Bauingenieurtätigkeit abgezweigt hatte. <

 

Vor 170 Jahren, als sich der Universitätsprofessor herauszubilden begann, wie wir ihn heute kennen, schrieb Arthur Schopenhauer:

 

Die Wissenschaften haben eine solche Breite der Ausdehnung erlangt, dass wer etwas „darin leisten“ will, nur ein ganz spezielles Fach betreiben darf, unbekümmert um alles andere. Alsdann wird er zwar in seinem Fach über dem [gemeinen Volk] Vulgus stehn, in allem übrigen jedoch zu demselben gehören. – Überhaupt ist so ein exklusiver Fachgelehrter dem Fabrikarbeiter analog, der sein Leben lang nichts anderes macht als eine bestimmte Schraube oder Haken oder Handhabe zu einem bestimmten Werkzeuge oder Maschine, worin er dann freilich eine unglaubliche Virtuosität erlangt. Auch kann man den Fachgelehrten mit einem Mann vergleichen, der in seinem eigenen Hause wohnt, jedoch nie herauskommt. In dem Hause kennt er alles genau, jedes Treppchen, jeden Winkel und jeden Balken; etwa wie Victor Hugos Quasimodo die Notre-Dame-Kirche kennt: aber ausserhalb derselben ist ihm alles fremd und unbekannt.

 

Wie anders verhalten sich die Dinge beim Gründer der Fondation Pierre Gianadda! Nochmals Arthur Schopenhauer:

 

Im ganzen genommen ist die Stallfütterung der Professuren am geeignetsten für die Wiederkäuer. Hingegen die, welche aus den Händen der Natur die eigene Beute empfangen, befinden sich besser im Freien.

 

1889 sei der Grossvater mit 13 Jahren als Arbeitsmigrant aus Italien über den Simplonpass nach Martigny gekommen, erzählt Léonard Gianadda zu Beginn der Aufnahme für die „Plans Fixes“. Die Eisenbahnlinie gab es damals noch nicht. Der Tunnel wurde erst 1906 eröffnet. Aber der Bub hätte auch gar nicht die Mittel gehabt, den Zug zu nehmen. Deshalb machte er den 350 km langen Weg zu Fuss.

 

Auf dem Bau fand er Arbeit als Handlanger. Doch die Tragriemen schnitten bis aufs Blut in sein Fleisch. Darum lernte er an Abendkursen das Maurer­handwerk. Dann gründete er ein eigenes Unternehmen. Mit 23 Jahren verdiente er genug, um Angiolina Chiocchetti zu heiraten und aus Italien in die Schweiz zu holen.

 

Neun Jahre später, 1906, erhielt das Paar den Sohn Robert. Er wurde Architekt und Bauunternehmer und zeugte mit seiner Frau Liliane, geb. Darbellay, vier Kinder: Jean-Claude, Léonard, Pierre und Madeleine. Pierre kam 1976 im Alter von 38 Jahren bei einem Flugzeugunfall ums Leben. Nach ihm benannte zwei Jahre später, 1978, Léonard seine Stiftung: Fondation Pierre Gianadda. Für den 42-jährigen Bauingenieur bedeutete sie die Krönung des Arbeitslebens.

 

„Wir sind zum Erfolg verurteilt“, sagt er dreissig Jahre später der Kamera, die den 72-Jährigen besucht, um seinen Werdegang für Welt und Nachwelt in den „Plans Fixes“ festzuhalten. „Die Subventionen von Stadt und Kanton machen nur 1,5 Prozent des Budgets aus. Den Rest müssen wir aus den Einnahmen gewinnen.“ Gerade gestern habe er ausgerechnet, dass die Besucherzahl, die zwischen 1978 und 2008 zusammenkam, siebenhundert Eintritten pro Tag ent­spreche – bei einer Stadtgrösse von 14’700 Einwohnern (gleich wie Burgdorf oder Solothurn). „Wie waren die ersten“, erklärt Léonard Gianadda. „Da war es noch einfach. Der Hype der Gegenwartskunst setzte erst später ein. Und später entstand auch erst die Fondation Beyeler.“

 

Um Ausstellungen für Martigny möglich zu machen, war Zusammenarbeit unumgänglich. Dabei zeigte sich: „Auf zehn Briefe gibt es neun Absagen. Auf zehn Besuche aber nur eine.“ So ging nun Léonard Gianadda zu den Häuptern der grossen Institutionen. Die ihrerseits merkten beim persönlichen Kontakt, mit wem sie es zu tun hatten, und machten den Walliser Kleinstädter zum Aufsichtsrat bei der Stiftung Hans Erni, der Fondation Balthus, den italie­nischen National­museen, der Fondation Henri Cartier-Bresson, dem Musée Toulouse-Lautrec und dem Musée Rodin. Bei letzterem kam er auch in die Anschaffungs­kommission, gleich wie beim Musée d’Orsay: „Stellen Sie sich vor, sie haben mich genom­men, obwohl ich Schweizer bin! Und Bau­inge­nieur!“ Offenbar fanden die Museums­leiter nicht: „Man merkt, dass du nicht Kunsthistoriker bist!“

 

Martigny aber verzog bis zum Zeitpunkt der Filmaufnahme keine Miene. Auszeichnung? Anerkennung? Pah! Léonard Gianadda bekam zwar das Burgerrecht (la citoyenneté), „aber für teures Geld!“ Die Walliser verhielten sich gegen die Überlegenheit ihres Mitbürgers wie die Berner zu Karl Viktor von Bonstetten und Walther Killy: „Dä muess nume nid meine!“

 

Schopenhauer:

 

Übrigens ist es in der Gelehrtenrepublik wie in andern Republiken: Man liebt einen schlichten Mann, der still vor sich hin geht und nicht klüger sein will als die andern. Gegen die exzentrischen Köpfe, als welche Gefahr drohen, vereinigt man sich und hat, o welche! Majorität auf seiner Seite.

 

Den Wert von Léonard Gianaddas „exzentrischem Kopf“ indes erkannten schon die Väter an der Klosterschule von Saint-Maurice. Der Klassenlehrer Kanonikus Amédée Allimann schrieb seinen Eltern:

 

Ihr Sohn ist der Klassenbeste. Er kann und muss aus seinem Leben etwas Grosses machen. 

 

In Martigny begann der grosse junge Mann (Körperlänge: 191 cm) nach der altsprachlichen Matur mit Griechisch und Latein, Kunstausstellungen zusammen­zubringen. Daneben verfasste er in Zentraleuropa, dem Balkan und Russland Reportagen für Tageszeitungen und Illustrierte. Mit zwanzig konnte er schon von diesen Einkünften leben, fand aber den Journalismus als Basis zu schmal und schrieb sich deshalb an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne ein: fürs Bauingenieurstudium. Im selben Alter errang er einen Leichtathletik-Sieg, arbeitete teilzeitlich als Grabungsleiter beim archäolo­gischen Dienst des Kantons Waadt und als Reporter-Fotograf für das West­schweizer Fernsehen.

 

Als er vernahm, dass > Georges Simenon nach Lausanne gekommen sei, rief er aufs Geratewohl ins Hotel Palace an und wurde gleich verbunden. Der Schriftsteller war bereit, sich durch die Stadt führen und dabei fotografieren zu lassen. Aber am nächsten Tag wollte er die Bilder sehen. Er war so angetan, dass er Léonard Gianadda bat, sie seinem Verleger nach Paris zu schicken, zu hundert Franken die Aufnahme. „Auf diese Weise kam ich zu fünftausend Franken zu einer Zeit, wo ein Ingenieur 650 Franken pro Monat verdiente.“

 

Mit gleicher Kelle ging es weiter, als der 25-Jährige in Martigny zu Beginn der Hochkonjunkturzeit mit dem gleichaltrigen Umberto Guglielmetti ein Ingenieur- und Architekturbüro eröffnete. Zwei Jahrzehnte später erlaubte ihm der Gewinn aus dem Bau zweier Brücken, zahlreicher Ingenieurbauwerke und über tausend Wohnungen die Gründung der Fondation Pierre Gianadda sowie eine Reihe weiterer mäzenatischer und sozialer Engagements.

 

An dieser Stelle würde Prof. Dr. H.H. unruhig: „Man merkt, dass du kein Bauingenieur bist!“ Schopenhauer aber schrieb:

 

Dilettanten, Dilettanten! – so werden die, welche eine Wissenschaft oder Kunst aus Liebe zu ihr und Freude an ihr, per il loro diletto, treiben, mit Geringschätzung genannt von denen, die sich des Gewinnes halber darauf gelegt haben; weil sie nur das Geld delektiert, das damit zu verdienen ist. Diese Geringschätzung beruht auf ihrer niederträchtigen Überzeugung, dass keiner eine Sache ernstlich angreifen werde, wenn ihn nicht Not, Hunger oder sonstwelche Gier dazu anspornt. Das Publikum ist des selben Geistes und daher der selben Meinung: hieraus entspringt sein durchgängiger Respekt vor den „Leuten vom Fach“ und sein Misstrauen gegen Dilettanten. In Wahrheit hingegen ist dem Dilettanten die Sache Zweck, dem Mann vom Fach als solchem bloss Mittel: nur der aber wird eine Sache mit ganzem Ernste treiben, dem unmittelbar an ihr gelegen ist und der sich aus Liebe zu ihr damit beschäftigt, sie con amore treibt. Von solchen, und nicht von den Lohndienern, ist stets das Grösste ausgegangen.

 

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