Henri Noverraz: Maler und Schriftsteller.

10. Juli 1915 – 8. Februar 2002.

 

Aufgenommen am 4. September 1995 in Genf.

Henri Noverraz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Am Anfang der Aufnahme wird Henri Noverraz gefragt, wo er jetzt stehe, mit achtzig. „Ich bin angewidert von der Politik und dem Verhalten der Staaten“, antwortet er. „Der Umgang mit den Flüchtlingen ist skandalös.“ Was der Schriftsteller und Maler über seine Zeit sagt, trifft auch auf die unsere zu. Offensichtlich sind die Verhältnisse in den letzten dreissig Jahren nicht besser geworden. Immer noch stellt sich die Frage: Wohin rollst du, Äpfelchen? <

 

Im Film, den die „Plans Fixes“ mit Henri Noverraz gedreht haben, entfaltet sich das Leben in Erzählkapiteln. Die Kindheit zunächst. Sie liefert die Erklärung, warum der Schriftsteller und Maler erst mit 17 lesen und schreiben lernte. Er kam nämlich mit drei Jahren von den Eltern weg.

 

Die Familie wohnte in Villette am Genfersee. Der Vater betätigte sich als Fischer. Die Mutter als Barrierenwärterin. Dankbar sog das Kind die Wärme der Grossmutter auf, die viele Geschichten zu erzählen wusste. Als Polin sprach sie Französisch mit faszinierendem Akzent. Daneben konnte sie auch Russisch, Deutsch und Englisch. Viermal war sie verheiratet gewesen; viermal Witwe geworden; 21 Kindern hatte sie das Leben geschenkt. Beim jüngsten, Henris Vater, lebte sie jetzt.

 

Der Enkel gab Anlass zur Sorge. Ständig klagte er über Kopfweh. Der Arzt diagnostizierte frühkindliche Diabetes. So kam er mit drei Jahren ins Spital und später zu den Schwestern. Bis zehn wurde er von den Diakonissen gepflegt und auf den Armen getragen. Er lernte viele Spiele und erlebte eine glückliche Zeit. Liebe erfuhr er mehr als daheim. Aber niemand bemerkte, dass er eigentlich in die Schule gehöre und etwas lernen müsse.

 

In den Zeiten, wo er bei der Familie Ferien machen durfte, genoss er die Zuwendung der Mutter, die mit geradem Sinn das Haus zusammenhielt. Denn der Vater war grob, ungleichmässig in seinen Leistungen und Launen – und immer benebelt.

 

Unter diesen Umständen fühlte sich Henri Noverraz vom See angezogen. „Früh schon war ich ein guter Schwimmer“, erzählt er. „Ich liebte es, mich so weit aufs Wasser zu begeben, bis ich die Häuser nicht mehr erkennen konnte. Dann erst kehrte ich um.“ Ein paarmal glaubten die Leute, er sei ertrunken, und alarmierten die Seerettung.

 

Ein anderes Erinnerungsbild: Wenn der Vater nicht alle Fische losgebracht hatte, wurde der Junge zum Verkaufen ins Dorf geschickt. Dabei begann er, den Vater zu betrügen. Er verlangte einen höheren Preis als vorgegeben und strich den unerlaubten Gewinn für sich ein. Damit kaufte er sich eine Geige. Doch als er anfing zu spielen und über die Saiten kratzte, entriss ihm der Vater das Instrument, zerbrach es überm Knie und warf es ins Feuer. Aber Henris Herzenswunsch, Musik machen zu lernen, flammte nun erst recht in ihm auf.

 

Als er mit zehn Jahren das Sanatorium verlassen konnte, sagte der Vater: „Wir vermögen es nicht, dich durchzubringen. Morgen kommst du als Hüterjunge zu einem Bauern.“ Im Hinterland, weit weg vom See, verbrachte er die nächsten sieben Jahre. Mit Wehmut sah er die andern Kinder zur Schule ziehen. Er aber durfte nichts lernen: „Ich war vollkommen naiv. Ich wusste nichts. Ich litt unvorstellbar. Die Dorfjugend lachte mich aus.“

 

Vom Bauern wurde er Tag und Nacht geplagt. Nie konnte er die Arbeit schnell genug machen. Jeden Abend musste er um zehn Uhr noch einmal in den Stall, um dem Vieh frische Streu zu geben. Da fand er auch die Knechte. Sie verbrachten schwatzend den Feierabend miteinander. Und weil es im Weiler kein Gasthaus gab, hatte jeder eine Flasche Schnaps neben dem Schemel.

 

Mit 17 Jahren war Henri Noverraz reif – zum Aufstand. Zuerst versteckte er sein Bündel hinter einem Karren. Dann wartete er, bis der Bauer den Stall betrat, und warf ihm einen Melkschemel an den Kopf. Der schwere Mann fiel zu Boden. Blut trat aus seinem Ohr. „Mein Gott, wenn ich ihn jetzt getötet habe!“, dachte Henri. Rasch ergriff er das Bündel und trat ins Freie. Dort bewegte sich gemächlich vom Haus weg, um niemanden auf den Gedanken zu bringen, er befinde sich auf der Flucht. Doch nach einer Weile vernahm er Schritte hinter sich – die Bäuerin: „Henri, ich habe alles gesehen! Gott sei mit dir! Nimm dieses Geld!“

 

Er kam nach Lausanne. Der erste Weg führte ihn zum Konserva­torium: „Ich möchte Musik lernen.“ „Welche Richtung denn?“ „Alles. Ich bin Anfänger.“ „Oh, das geht nicht.“ Damit fand Henri Noverraz im Ausschlussverfahren seinen künstlerischen Weg: „Wenn mir die Musik verbaut ist, halte ich mich ans Schreiben und Malen. Dafür ist die Technik weniger anspruchsvoll. Ich kann gleich anfangen.“

 

Er verdiente nun sein Brot als Botengänger, zuerst bei einer Drogerie, dann bei einer Bank. Deren Direktor ermunterte ihn zu einer kaufmännischen Lehre. So kam er ab 17 Jahren dazu, das Versäumte nachzuholen und mit einem Diplom ins Erwachsenenleben zu treten.

 

Neues Bild: Paris. Mit dreissig ist Henri Noverraz bei den Surrealisten. Da zirkuliert das Wort „Écriture automatique“: Nichts denken! Einfach den Stift übers Papier laufen lassen! Mit dieser Technik verfasst Henri Noverraz seine ersten Texte. Doch wohin mit ihnen? André Breton ist hart und abweisend. Antonin Artaud dagegen weich und liebevoll. Zum Gehen bittet er um Henris Arm, denn der Theatermann und Schriftsteller (Gesamtwerk: 26 Bände) ist schon vom Krebs gezeichnet.

 

In den nächsten fünfzig Jahren verfasst Henri Noverraz dreissig Bücher. Noch einmal so viele Manuskripte liegen unpubliziert im Schrank. Sie entstanden vornehmlich in Genf, wo sich auch das Maleratelier befand. Das bildnerische Werk kam an hundert Kollektiv- und sechzig Einzelausstellungen vor die Augen der Öffentlichkeit. Doch damit ist nun Schluss.

 

Im Alter von 76 Jahren verliert Henri Noverraz das Atelier. Und Ersatz findet er nicht; entweder ist die Miete zu hoch, oder das Licht stimmt nicht. Nun gibt es für seine Kreativität keinen Ausfluss mehr. Ein Unglück: „Leben, ohne zu malen, bedeutet den Tod.“

 

Ähnlich, wenngleich milder, hat das Marcel Proust ausgedrückt:

 

In der Geisteshaltung, in der man „beobachtet“, befindet man sich weit unter dem Niveau, auf dem man steht, wenn man etwas erschafft.

 

Dans l’état d’esprit où l’on « observe », on est très au-dessous du niveau où l’on se trouve quand on crée.

 

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