Gérard Rabaey: Die Sterne berühren.

6. Januar 1948 –

 

Aufgenommen am 30. August 2017 in Blonay.

Gérard Rabaey – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Während Gérard Rabaey erzählt, wie er es schaffte, bei Gault-Millau 19 von 20 Punkten zu erringen und bei Michelin drei Sterne (was ihm im Koch-Olymp den höchsten Rang eintrug) – während dieser Aufnahme also erscheinen ab und zu Finger am unteren Bildrand. Sie gehören dem Interviewer Charles Sigel. Der Mann müsste eigentlich unsichtbar bleiben, drängt sich aber in die Aufnahme … Eine Störung, die viel sagt über die Schwierigkeiten des Dialogs und die Schwierigkeiten im Verlauf von Gérard Rabaeys Karriere. <

 

Wie schon beim Gespräch mit > Mario Botta will der pensionierte Radio­moderator Charles Sigel auch jemand sein. Er will die Mitteilung des Stars nicht aufnehmen, sondern mitgestalten. Dabei geht er nicht vom Unbekann­ten aus, das nur sein Dialogpartner wissen und in der kostbaren Stunde der „Plans Fixes“-Aufnahme der Mit- und Nachwelt anvertrauen kann, sondern er orientiert sich bei seinen Interventionen an dem, was in seinen Augen ein „lebendiges“ Gespräch ausmacht. Damit drängt sich sein Konzept von „Form“ vor den Inhalt, und wichtiger als die Frage: „Was hat der andere zu sagen?“ ist dem Interviewer die Frage: „Wie stehe ich da?“

 

Nun, wie steht er da? Während der Eingangssequenz, die den Porträtierten und den Befrager nebeneinander zeigt, hält Charles Sigel die Hände in den Hosentaschen. Eine unhöflichere Haltung ist nicht möglich. Da befindet sich der Radiomann über Montreux auf dem Anwesen des Spitzenkochs und drückt in seiner Haltung burschikose Vertraulichkeit aus. Für den Körper­sprach­ler indes verrät die Attitüde etwas anderes, nämlich Befangenheit: Der Gast will sich auf dem fremden Territorium nicht breitmachen, sondern schmal. Darum versorgt er seine Hände in den Hosentaschen.

 

Charles Sigel verbirgt die Befangenheit hinter einer Attitüde der Überlegen­heit. Er hört nicht einfach zu. Er stellt nicht einfach Fragen. Denn er „weiss schon alles“. Zwei, drei Mal verrät er, er habe Gérard Rabaeys Autobio­grafie gelesen. Darum spricht er hauptsächlich, um das Gespräch zu strukturieren: „Nicht so rasch! Darauf kommen wir später!“ Daneben spielt er den Pseudoanalytiker: „Sie sind ein Willensmensch. Sie waren als Kind nicht glücklich.“ Mit diesem Stil, der nicht fragt, sondern Feststellungen trifft, verhält er sich nicht wie ein Gesprächspartner, der sich horchend in eine andere Person hineinversetzt, sondern wie ein Überlegenheit ausspielender Moderator. Und der war er auch bei Radio Suisse Romande Espace 2, jahrzehntelang. Déformation professionnelle.

 

Aber so läuft es beim Talken. Im Studio fragt der Tagesschaumann den Ausland­korrespondenten nicht: „Wie sind die Wahlen herausgekommen?“, sondern er beginnt mit einem Statement: „XY hat eine Schlappe eingefahren.“ Eigentlich könnte der Experte darauf nur antworten: „Ja“, und der Moderator müsste fragen: „Warum?“ Aber Moderatoren fragen nicht. Zu ihrem Jobprofil gehört es, den Alleswisser zu spielen. Wenn sonst die Welt undurchschaubar ist – am Sender herschen Klarheit und Kontrolle, nicht Ratlosigkeit; wenn auch Paul Valéry bemerkte: „Penser, c’est perdre le fil.“ In den Medien aber wird nicht gedacht.

 

Im stillen Bewusstsein dieses Bewandtnisses der Sache sucht jeder Mediokre seinen ihm eigenen Stil zu maskieren. Dies nötigt ihn zunächst, auf alle Naivität zu verzichten; wodurch diese das Vorrecht der überlegenen und sich selbst fühlenden, daher mit Sicherheit auftre­tenden Geister bleibt. (Arthur Schopenhauer)

 

Wie schon bei Mario Botta stören Charles Sigels Statements die Erzählung von Gérard Rabaey. Der Hörer muss sie wegdenken, und der Befragte muss sie umschiffen. Für den Sternekoch ist das anstrengend. Denn er ist ein gerad­liniger Mensch. Konsequenz und Folgerichtigkeit haben ihn nach oben gebracht. Ohne diese Qualitäten, sagt er, könne man kein Spitzenrestaurant führen; und diese Qualitäten, sagt er, hätten ihm das Talent ersetzt.

 

Die Kochlehre nämlich war nicht gewählt, sondern auferlegt. Alle Berufe, die mit dem Mund zu tun haben, widerten Gérard Rabaey in der Kindheit an. Der Vater führte eine Metzgerei, wahrscheinlich mangels Alternativen; und mangels Alternativen stand nun auch der 14-Jährige zweihundert Kilometer von zu Hause weg unglücklich am Herd. Doch die Wirtsfrau schloss ihn ins Herz, und nach einem halben Jahr sagte sie: „Ich hätte gern einen Sohn wie dich gehabt.“

 

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.

 

(Joseph von Eichendorff)

 

Zum ersten Mal sah sich Gérard Rabaey, der sich vorher als ungelieb­tes und ungewolltes Kind vorgekommen war, als Mensch anerkannt und wahrge­nommen. Von da an begann er, an sich zu glauben. Wie der deutsche Kabarettist Hanns Dieter Hüsch, der auch eine einsame, schwierige Jugend verbracht hatte, nahm er sich vor, die Aufmerksamkeit und Achtung der andern zu gewinnen, indem es etwas machte, „das nur wenige können. So falle ich auf.“ Und wie Hüsch fand er durch seine Kunst zu sich selbst. So treffen nun die Worte des Kabarettisten auch auf Gérard Rabaeys Karriere zu: „Es ist mir, allerdings mit totalem Einsatz, gelungen, aus dem Nichts etwas aufzubauen, womit ich mir einen Namen gemacht habe, und zwar den meinen.“

 

1989 erhielt Gérard Rabaey aus der Hand von Jacques Chirac die „Médaille de la ville de Paris“. Im selben Jahr ernannte ihn Gault-Millau zum „Koch des Jahres“, wie ein zweites Mal 2004. Ab 1998 trug sein Haus „Le Pont de Brent“ den dritten (und höchsten) Michelin-Stern. 2010 aber zwang ihn der Krebs, das Restaurant nach dreissigjähriger Tätigkeit dem Vize zu übergeben.

 

Auf und ab.

 

„Gonnet kommt! Rabaey rettet ‚Pont de Brent‘“, titelte Gault-Millau am 14. Januar 2022:

 

Good News von der Montreux-Riviera: Antoine Gonnet übernimmt Pont de Brent. Comeback einer magischen Adresse

 

DER MYTHOS VON PONT DE BRENT. Im Restaurant Pont de Brent oberhalb von Montreux wurde während Jahrzehnten die ganz grosse Gastronomie gepflegt. Gérard Rabaey kochte hier jahrelang mit der Höchstnote von 19 Gault-Millau-Punkten und drei Michelin-Sternen, bevor er aus gesundheitlichen Gründen vom Herd zurücktreten musste. Stéphane Décotterd übernahm mit seiner Frau Stéphanie die legendäre Adresse und wirtete hier zehn Jahre lang auf 18 Punkte-Niveau. Im letzten Herbst brachen die beiden ziemlich überraschend die Zelte ab. Sie unterschrieben in der Hotelfachschule Glion: „Maison Décotterd“ heisst ihr neues Restaurant an bester Lage. Und Pont de Brent? Blieb geschlossen, sehr zum Leidwesen der grossen Stammkundschaft und zum Ärger von Gérard Rabaey, der Liegenschaft und Lebenswerk nicht gerne verwaist sah. Rabaey war eine ganz grosse Nummer in der Schweizer Koch-Szene, ein enger Vertrauter auch von Frédy Girardet.

 

RABAEY SCOUTETE UND TESTETE DEN „NEUEN“. Tempi passati. Der legendäre Koch und Besitzer des Restaurants hat mit Antoine Gonnet und Amandine Pivet ein ideales junges Paar gefunden, das die Nachfolge übernimmt und das Lokal im Juni wieder eröffnet.

 

Heute, am 24. Dezember, ist das Restaurant „Pont de Brent“ bis 15:00 Uhr geöffnet. Es öffnet wieder um 19:00 Uhr. Zwei Menüs stehen zur Auswahl: Ein Siebengänger für 180 Franken und ein Neungänger für 210 Franken. Dazu gibt es als Supplement Käse für 18 Franken.

 

Frohe Weihnacht!

 

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