Marie-Louise Goumaz: Im Dialekt leben.

15. Februar 1925 –

 

Aufgenommen am 28. Januar 2021 in Chexbres.

Marie-Louise Goumaz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Das Netz kennt die biografischen Daten von Marie-Louise Goumaz nicht. Gibt man ihren Namen ein, wird man bloss auf das Porträt bei den „Plans Fixes“ verwiesen. Doch bei den Gefilmten nennt die Plattform das Geburtsdatum nicht. Immerhin weiss search.ch ihre Adresse, und Marie-Louise Goumaz beantwortet den Brief mit einem Anruf: „Sie wollen wissen, wann ich geboren bin? Am 15. Februar 1925.“ Mein Gott! Dann feiert sie ja morgen ihren 98. Geburtstag! <

 

Wenn man fast hundert Jahre alt wird, hat man viele überlebt; nebst anderen meinen Vater. Er hatte den gleichen Jahrgang wie Marie-Louise Goumaz. Er ging wie sie täglich über den Waisenhausplatz in Bern. Wahrscheinlich haben sie sich gekreuzt, vielleicht sogar viele Male. Mein Vater machte eine kaufmännische Lehre im Kleidergeschäft Dick, das heute noch am Waisenhausplatz 24 existiert (dessen Werbespruch war: „Dick macht schlank“), und auf der andern Seite ging Marie-Louise in die kaufmännische Klasse der Evangelischen Mädchenschule. Aber mein Vater hatte damals bereits ein anderes Mädchen im Kopf, auch eine Welsche. 

 

Als meine Mutter Roland begegnete – er war 16, sie 15 Jahre alt – imponierte er ihr durch das stille, ernsthafte Wesen, mit dem er von den anderen Burschen abstach. Und Alkohol nahm er auch nicht. Damit passte er für Simone ins Profil, das sie ihrem Künftigen gegeben hatte: „Ich werde nie einen Mann heiraten, der trinkt!“ Roland trank nicht. Und Christ war er auch.

 

Die beiden lernten sich in einer freikirchlichen Bibelstunde kennen, im Haus des Gärtnermeisters Hänni (dem „Hänni-Hüsli“) in der Halen (heute Muris Top-Wohnadresse). Da wurde am Sonntag­abend jeweils eine „Er­weckungs­versammlung“ durchgeführt, um die jungen Leute vor den Verlockungen der Welt und des Müssiggangs zu bewahren. Frau Hänni spielte das Harmonium, Herr Hänni predigte. Dann gingen die jungen Leute gesittet nach Hause. Roland begleitete Simone übers Moos nach Gümligen zur Pflegefamilie. „Ich dachte mir nichts dabei“, erklärte er mit achtzig. „Ich fand sie attraktiv, mehr nicht.“ Simone aber dachte: „Er istʼs!“

 

Sie war wieder einmal durch das Rote Kreuz aus Tramelan weggekommen und zur Absolvierung des neunten Schuljahrs zu einer wohlgesinnten Deutsch­schweizer Pflegefamilie gegeben worden. Dort sollte die rachitische, körperlich zurück­gebliebene Simone bei gesunder Kost und christlichen Grundsätzen hochge­päppelt werden.

 

Ohne dass jemand merkte, wie konsequent sie ihre Eheabsichten verfolgte, gelang es ihr, den Burschen fürs Skifahren nach Tramelan einzu­laden und in die Familie Baumann einzuführen. Im Frühling war es der leutselige Vater, der Simone ermun­terte, ihren Deutschschweizer (ton Suisse allemand) zum Pflücken von „April­glocken“ (Narzissen) auf die Jura­weiden einzuladen und daraufhin zum Braten einge­wickelter Würste in der Glut von Tan­nen­zwei­gen (la torrée). Im Herbst kam er schon von selbst; da ging es zum Pilz­sammeln in die Freiberge. So wuchs der gleich­mässig stille und anständige „Roly“ unmerklich in die jurassische Familie hinein.

 

Während mein Vater und meine Mutter noch „karisierten“, wie man um 1950 sagte, war Marie-Louise im Alter von 21 Jahren schon verheiratet. Sie bekam drei Kinder. 2011, zum Zeitpunkt der Aufnahme, war der Sohn 72; die eine Tochter pensioniert; die andere gestorben. Vom Ehemann ist im Film nicht weiter die Rede. Man lässt beim Altwerden eben viele hinter sich. Doch ob man deswegen auch von ihnen getrennt ist? 

 

Als die Tochter zwei Tage vor Weihnachten überraschend starb, vernahm Marie-Louise Goumaz so deutlich ihre Stimme, als ob sie weiter im Raum wäre. Die Abgeschiedene ordnete an, was jetzt zu geschehen habe: Benach­rich­tigung der Angehörigen, Organisation des Begräbnisses. Aber vor allem: „Sag das Weihnachtsfest nicht ab! Führ es durch, als ob ich noch am Leben wäre.“

 

In Marie-Louise Goumaz ist das Vergangene lebendig geblieben. Sie erzählt vom Christfest 1936. In diesem Jahr hat sie die Mutter verloren, und auch eine Schwester. Aber der Weihnachtsmann kommt trotzdem vorbei und verteilt Geschenke. Alle erhalten eine Bescherung, nur die Elfjährige nicht. Doch wie sich der Sankt Nikolaus zum Gehen anschickt, wendet er sich um: „Da habe ich ja noch etwas in meinem Sack! Es ist für dich!“ 

 

Das Mädchen erhält eine flache, längliche Schachtel. „Sicher der ersehnte Füllfederhalter!“, denkt es. Immer, wenn Marie-Louise an der Papierhandlung vorbeikam, blieb sie vor dem Schaufenster stehen und träumte davon, wie schön es wäre, mit dem grossartigen Stift schreiben zu können. Und jetzt liegt er vor ihr auf den Knien. Sie wagt nicht, das Geschenk auszupacken. Die Vettern beginnen, sie zu schubsen: „Mach schon! Zeig, was drin ist!“ Doch das Mädchen ist vom Glück zu erfüllt, um die Hände bewegen zu können. So nehmen ihr die Burschen am Ende das Geschenk weg, reissen das Papier auf, öffnen die Schachtel – – und heraus springt eine kleine, grüne Schlange aus Papier. Der Scherzartikel geht von Hand zu Hand, immer wieder wird die Feder zusammengedrückt und losgelassen, bis das Ding kaputt ist.  

 

So verlief für die Halbwaise das Christfest 1936. Von da an war sie verschlossen. Sie war nur noch irgendwie dabei. Eine bestimmte Meinung hörte man sie nicht mehr äussern. „Nur kein Streit!“ (Pas de bringues!) lautete in der Familie meiner Mutter die Devise. Und bei Marie-Louise sagte man: „Damit muss man halt zurechtkommen!“ (Il faut faire avec.)

 

Doch als ihr Mann depressiv wurde und sie sich überlegte, womit sie ihn anregen könne, fand sie dank der Association Vaudoise des Amis du Patois (AVAP) mit 39 Jahren zum Leben zurück, und auch ihr Mann entwickelte Interesse für die Verhältnisse der Altvorderen.

 

Der Brockhaus von 2006 nennt „Patois die zumeist abwertende Bezeichnung der Mundart, Sprechweise der Landbevölkerung Frankreichs“. In der Westschweiz ist das Patois ausgestorben. Als Kind hörte es Marie-Louise Goumaz noch auf dem Land bei einigen alten Leuten, ohne es zu verstehen. Der Beitritt zur Association veranlasste sie, Sprachstunden zu nehmen und die Mundart der Alten zu lernen. Dabei entwickelte sie Einsatzfreude. Sie half bei der Organisation der Vereinsanlässe mit; sie wurde Kassiererin und zum Schluss, für 23 Jahre, Präsidentin der Association Vaudoise des Amis du Patois.

 

Durch das Patois trat Marie-Louise Goumaz mit den Vorfahren in Dialog. Deren Verhältnisse wurden für sie deutlich. Sie begann, Achtung zu empfinden, wie sich die Menschen früher in ihr hartes Los geschickt hatten. Es war schon viel, wenn man ohne Schulden durchs Leben kam. Wenn man aber noch ein Feld oder ein Waldstück erwerben konnte, das an die Erben weiterging, hatte man etwas aus seinem Leben gemacht.

 

Das Leben auf dem Land hat Simon Gfeller 1931 in seinem autobiografischen Erzählband „Drätti, Müetti u der Chlyn. Bilder us myr Buebezyt“ (Vati, Mutti und der Kleine. Bilder aus meiner Bubenzeit) im Emmentaler Dialekt geschildert:

 

Hier ein Ausschnitt in Übersetzung:

 

Zu jener Zeit kam Vati dem Kleinen manchmal ganz unheimlich vor. Von Spässen oder Lumpereien wollte er nie etwas wissen. Arbeiten, arbeiten, immer nur arbeiten hätte man sollen, arbeiten wie Vati selbst. Und der war dran, jahraus, jahrein, von der Morgen- zur Abenddämmerung. Am Abend konnte er niemals Feierabend machen, Mutti musste häufig dreimal zum Nachtessen rufen. Und ging man vom Tisch, hatte Vati immer noch etwas zu tun und liess nicht ab, bis er nicht mehr das Geringste sah, ob ihm jemand half oder nicht. Etwas Schauriges war das, und für den Kleinen, der es noch so gern laufen liess, je leichter desto lieber, fast etwas Grausiges. Oft staunte er Vati lange an und konnte nicht verste­hen, warum er so sei und sich selbst und den andern das Leben so schwer mache.

 

Da hörte er Vati einmal sagen, wie er und die beiden älteren Brüder heute ein grosses Stück umgegraben hätten: „Ueli und Fritz, das sind Gute zum Arbeiten, das gibt einmal Buschen wie Gold! Wie die heute Nachmittag dreinschlugen! Und wie es ihnen rückt und von der Hand geht! Nicht um sich blicken und ausruhen, immer drauf und hü! O schau, Mutti, was das für ein schönes Arbeiten ist und wie leicht es geht, wenn man so Hilfe hat und so voran kommt! Man spürt keine Müdigkeit, und ein halber Tag geht herum, man weiss nicht wie. Und am Abend möchte man, es wäre schon wieder Morgen, damit man frisch drauf los könnte!“ So erzählte Vati, und die Stimme zitterte ihm vor Glück. Der Kleine lag mit offenen Augen im Bett und spürte nur eins: dass er alles auf der Welt mit Freude daran gäbe, wenn Vati auch einmal von ihm so reden würde, mit solch einer lieben, zittrigen Stimme. Er sagt es zwar niemanden; aber es arbeitete noch lange in ihm.

 

Im Original steht:

 

Sälb Zyt düren isch Drätti em Chlynne mängisch ganz uheimelig vorcho. Vo Galen oder Lumpereie trybe het dä nie nüt welle wüsse. Wärche, wärche, nume gäng wärche hätt me sölle, wärche wi Drätti sälber. U dä isch dranne gsy, johruus, johry vo eir Tagheiteri zur angere. Am Obe het er nienischt chönne Fürobe mache, Müetti het dickisch drümol müesse rüefe für zum z’Nacht. U isch me vom Tisch, het Drätti gäng no öppis z’tüe gwüsst u nid abggä, bis er ke Stich meh gseh het, heig ihm öpper ghulfen oder nid. Öppis Grüüsligs isch es gsi, u für e Chlynne, wo’s no so gärn hätt lo tschöiderle wi ringer wi lieber, fascht öppis Gruusigs. Er het mängisch Drättin lang agstuunet u nid chönne druber yhe cho, worum dass er so ischt u ihm sälber u den angere ’s Läbe sövel schwär macht.

 

Du ghört er Drättin brichte, wi-n-är u die eltere Brüeder hütt e grosse Bitz umegschlage heigi. „Ueli u Fritz, das sy Guet zum Wärche, das git einisch Bürschtle wi Guld! Was die drygschlage hei dä Nomittag! U wi-n-es ne de rückt u us der Hang louft! Nüt näbenumeluege u löie, gäng druff u hü! O lue, Müetti, was das es schöns Wärchen ischt und eim ring geit, wemen eso Hülf het un eso cha rücke! Mi gspürt e ke Müedi, u der Halbtag geit ein ume, mi weiss nid wie. U am Obe wett me, es wär scho ume Morge, dass me früsch druuflos chönnt!“

 

So hett Drätti brichtet, u d Stimm het ihm zitteret vor Glück. Der Chlyn isch mit offeten Ougen im Bett gläge, u numen eis het er gspürt: Dass er alls uf der Wält mit Freude wett häregä, we Drätti ou vo ihm einischt eso redti, mit ere settige liebe, zitterige Stimm. Gseit her er zwar niemme­rem öppis; aber gwärchet het’s no lang in ihm.

 

Solche Geschichten hat Marie-Louise Goumaz in Patois auch aufgeschrieben. Aber sie blieben ungedruckt. Niemand kann sie heute mehr lesen, so wenig wie Simon Gfellers Emmentaler Erinnerungen noch Leser haben. Wenn man fast hundert Jahre alt wird, hat man viele überlebt.

 

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