Gabrielle Nanchen: Freiheit, mein Weg.

31 März 1943 –

 

Aufgenommen am 25. April 2022 in Vex.

Gabrielle Nanchen – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> So, wie Gabrielle Nanchen eingeführt wird, erwartet man das Schlimmste. Die frühere SP-Nationalrätin steht nämlich für Feminismus, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit, und dazu laufen uns die vorgestanzten Sätze schon aus den Ohren heraus. Doch dann zeigt sich, dass Gabrielle Nanchens Position nicht durch Ideologie bestimmt wurde, sondern durch Erfahrungen und Persönlichkeitsstruktur. Und gleich ist sie glaubwürdig – als Frau und als Politikerin. <

 

Beim Blick auf den Lebensweg, den die 79-Jährige zurückgelegt hat, tritt das Anliegen immer deutlicher hervor: Es ging Gabrielle Nanchen letzten Endes um die Verträglichkeit. Der Begriff findet sich in Georg Christoph Lichten­bergs „Sudelbüchern“. Da hinein schrieb der Göttinger Physikprofessor (1742-1799) nachts seine Gedanken. Sie waren nie zur Publikation bestimmt; kamen auch erst nach seinem Tod an die Öffentlichkeit. Einzelne Hefte sind verschollen.

 

In Heft F, beschrieben zwischen 1776 und 1779 (also zwischen dem 34. und 37. Altersjahr) nahm sich Lichtenberg vor:

 

Lerne deinen Körper kennen, und was du von deiner Seele wissen kannst, gewöhne dich zur Arbeit und lerne deine Bequemlichkeit überwinden, gewöhne deinen Verstand zum Zweifel und dein Herz zur Verträglichkeit. Lerne den Menschen kennen und waffne dich mit Mut, zum Vorteil deines Nebenmenschen die Wahrheit zu reden.

 

Den Begriff der Verträglichkeit hatte Lichtenberg durch die Lektüre eines Aufklärungsschriftstellers gewonnen. Mit dreissig hielt er in Heft C fest:

 

Die himmlischste unter allen Töchtern der gesunden Vernunft ist die allgemeine Verträglichkeit, sagt Herr Meiners in seiner „Revision der Philosophie“ Seite 62.

 

„Allgemeine Verträglichkeit“ nun hat Gabrielle Nanchen, geboren zweihundert Jahre nach Lichtenberg, nicht aus den Büchern aufgenommen, sondern aus der Muttermilch. Unter dem Familiennamen Stragiotti wuchs sie in Aigle als Kind eines Italieners und einer französischen Mutter zusammen mit neun Schwestern und einem Bruder auf. In dieser Konstellation wurde ihr Charakter auf Ausgleich und Zusammenarbeit gestimmt.

 

Wie ihre Schwestern brachte Gabrielle aus der Schule immer gute Noten nach Hause. Sie wusste, dass sie damit den Eltern Freude machte. Und da sie sich nicht als Kind vorkam, das besondere Liebenswürdigkeit ausstrahlte, fand sie, wenigstens das könne sie tun, damit Papa und Mama sie gerne hätten.

 

Bei der Studienwahl entschied sich die junge Frau für eine Tätigkeit, die der Allgemein­heit zugute kommt. Sie holte sich in Lausanne ein Lizenziat in Gesellschafts­wissenschaften und ein Diplom in sozialer Arbeit. Während dieser Zeit wurde sie politisiert. Der Krieg in Algerien und die Apartheid in Südafrika brachten sie auf:

 

Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun. (Lichtenberg)

 

Als an der Gewerbeausstellung von Martigny Südafrika Ehrengast war, half sie eine Informationsveranstaltung organisieren, die zur Sprache brachte, wie ungerecht das Regime war, das die Schweiz als einziges zivilisiertes Land mit Waffen belieferte. Die rechtskatholische Tageszeitung „Le Nouvelliste du Valais“ brandmarkte sie daraufhin als Revoluzzer, obwohl sie mit ihrer Tätigkeit nur Lichtenbergs Konzept umsetzte:

 

Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall.

 

In diesem Zusammenhang wurde der Psychologe Maurice Nanchen durch Gabrielle zum Linken und Gabrielle Stragiotti durch Maurice zur Feministin. Dem jungen Mann, aufgewachsen mit einer verwitweten Mutter und zwei Schwestern, war schon früh die strukturelle Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen aufgefallen, und um etwas dagegen zu tun, wurde er Feminist. 1967 verbanden Gabrielle und Maurice Anliegen und Lebensbahn miteinander durch den Ehebund.

 

Mit dem Umzug ins Wallis jedoch verlor Gabrielle das Stimm- und Wahlrecht auf Gemeinde- und Kantonsebene, das sie in der Waadt besessen hatte. Durch diese Tatsache wurde ihr der feministischen Kampf nahegelegt, und für ihn stellte sie sich mit 28 Jahren auch zur Verfügung, als die sozialdemokra­tische Partei des Kantons Wallis 1971 für die Nationalratswahlen Kandida­tinnen suchte. Es war das erste Mal in der Geschichte der Schweiz, dass den Frauen Zutritt zum eidgenössische Parlament gewährt wurde. Gabrielle gab den Namen her gegen die Versicherung, dass sie keine Chancen habe, gewählt zu werden; denn sie wollte ihre beiden Kleinkinder nicht im Stich lassen, und Betreuungseinrichtungen gab es im Dorf nicht.

 

Doch wider Erwarten wurde sie gewählt. Sie war die jüngste unter den ersten elf in den Nationalrat gewählten Frauen. Pflichtbewusst nahm sie die Aufgabe an, Familie und Politik miteinander in Einklang zu bringen. Das ging zwei Legislaturen gut, dann musste sie „aus Selbstschutz“, wie sie sagt, zurück­treten.

 

Nachdem sie Medien und Frauenrechtlerinnen zur „Ikone des Feminismus“ gemacht hatten, brach jetzt das Gewitter über sie herein: Schwäche wurde ihr vorgeworfen, und Verrat an der Sache. „Aber nach der Geburt des dritten Kindes sah ich einfach nicht mehr, wie ich das Ganze schaukeln konnte“, rechtfertigt sich die ehemalige Parlamentarierin. „Dafür kamen neue, spannende Aufgaben auf mich zu, die den Horizont erweiterten.“

 

1980 wurde Gabrielle Nanchen Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, danach Delegierte der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, darauf Mitglied des internationalen Komitees vom Roten Kreuz und Stiftungsratspräsidentin von Swissaid. Dabei sah sie den Verdacht bestätigt, dass die Politik, so wie sie heute läuft, nicht in der Lage ist, die grossen Weltprobleme zu bewältigen. „Immer geht es ums Für oder Gegen“, erklärt Gabrielle Nanchen. „Dabei können wir den Planeten nur durch Zusammenarbeit retten. Der Konsens bringt uns weiter, nicht die Gegnerschaft.“

 

Über die Subtilität der Verflechtungen staunte schon Georg Christoph Lichtenberg. Durch einen Einfall kam er auf die Hypothese:

 

Wenn ich dieses Buch nicht geschrieben hätte, so würde heute über tausend Jahre abends zwischen sechs und sieben zum Beispiel in mancher Stadt in Deutschland von ganz andern Dingen gesprochen worden sein, als wirklich gesprochen werden wird. Hätte ich zu Wardöhus einen Kirschenkern in die See geworfen, so hätte der Tropfen Seewasser, den Myn Heer am Kap von der Nase wischt, nicht genau an dem Ort gesessen.

 

Im Zusammenhang mit dem feministischen Kampf sieht Gabrielle Nanchen, dass das infantile Dafür und Dagegen die Menschen nicht zusammenbringt; und erst recht nicht weiter. Nicht in der inklusiven Schreibweise liegt das Heil, sondern in der inklusiven Handlungsweise. Dafür müssen alle die Hand ausstrecken, die Waffen ablegen und miteinander Frieden schaffen, auch zwischen den Geschlechtern. Aber die Botschaft der 79-Jährigen kommt bei den jungen Feministinnen nicht gut an. Sie deuten ihre Verträglichkeit als Verrat.

 

Dabei kommt man mit Zartheit weiter. Das zeigen die Eintragungen des Herrn Professor Lichtenberg. 1789 schrieb er in Heft J seiner „Sudelbücher“:

 

Mutter unser, die du bist im Himmel.

 

Man/frau denke über diese Zeile zwei Tage nach!

 

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