Henri-Daniel Piguet: Uhrmacher.

31. Januar 1904 – 5.  Dezember 1997.

 

Aufgenommen am 3. April 1985 in Le Sentier.

Henri-Daniel Piguet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Bei der Begegnung mit dem 81-jährigen Star der Schweizer Uhrmacher­kunst Henri-Daniel Piguet, der zusammen mit seinem Vater in vier Jahren die komplizierteste Uhr gebaut hat, die jemals ohne Computerhilfe zustandekam, fallen drei Eigenschaften ins Auge: Gelassenheit, Humor und Bescheidenheit. Sie definieren einen Menschen, der sich durch das Motto auszeichnet, das auf der Uhrenbox eingraviert ist: „Mehr sein als scheinen.“ (Esse quam videri.) <

 

Immer, wenn die Uhrenmanufakturen Patek Philippe, Breguet, Vacheron Constantin oder Audemars Piguet von Sammlern beauftragt wurden, für sie ein kompliziertes, noch nie dagewesenes Stück zu bauen (egal zu welchem Preis), gaben sie den Auftrag weiter in die Vallée de Joux nach Le Sentier. Dort wohnten und arbeiteten im Haus Nr. 8 der Grand-Rue seit 1870 die Nachfahren von Victorin Emile Piguet. Das Atelier hiess „Les Fils de Victorin Piguet“. Der Name zeigte an, dass hier in zweiter, dann dritter Generation Uhrwerke entworfen und zusammengebaut wurden, welche nur Victorins Söhnen Jean und Paul sowie dem Enkel Henri-Daniel gelingen konnten.

 

Jean war das Genie. „Ich kann dir nicht erklären, woher er’s hat“, sagte der Bruder Paul (ebenfalls hochbegabt) zu Jeans Sohn Henri-Daniel. „Er kann’s einfach.“ Das war für Henri-Daniel nachvollziehbar. Wenn er an einem Stück arbeitete, erschien ihm auch schon die Lösung für das nächste Stück vor Augen, und zwar so klar und deutlich, dass er sie nicht einmal aufzuzeichnen brauchte. Etwa beim Auftrag, eine Uhr zu konstruieren, die nach dem gregorianischen Kalender funktioniert: Da müssen nicht nur die Wochentage, die Monate und die Jahre ohne Nachregulierung ablaufen, sondern in den Schaltjahren muss auch ein 29. Februar aufscheinen. Aber dieser Schalttag fällt laut gregorianischem Kalender in den Jahren 2100, 2200, 2300 sowie 2500, 2600 und 2700 aus. Henri-Daniels Lösung bestand in einem Rad, das sich einmal in vierhundert Jahren dreht.

 

Als die Arbeiter von Patek Philippe das Werk nach Henri-Daniels Angaben zusammengesetzt hatten, zeigte sich, dass das Rad verkehrtherum lief. Der alte Mann erzählt das mit einem stillen Lachen. In der Ergebenheit, die sich darin ausdrückt, tritt der Unterschied zwischen künstlerischer und industrieller Fertigung vors Auge: Im einen Fall liegt das Gelingen in der Hand eines Höheren, im anderen hängt es bloss vom Menschen ab. An diesem Unterschied zeigt sich aber, dass die Kunst den Menschen erhöht, nicht die Industrie.

 

Im Nachruf unterstrich Pfarrer Philippe de Mestral 1997 Henri-Daniel Piguets Bescheidenheit:

 

„Vor allem andern beginnt man mit dem Gebet.“ Henri-Daniel war der Ansicht, dass der Gläubige Christus alles unterordnen solle. Sowohl in geistlichen als materiellen Dingen. Wenn er ein schwieriges technisches Problem zu lösen hatte – er stellte oft Prototypen für komplizierte Uhren her –, betete er und ersuchte Gott, ihm die richtige Idee zu schenken.

 

In der Innigkeit von Haus Nr. 8 an der Hauptstrasse von Le Sentier entstand zwischen 1928 und 1932 das Werk zur Patek Philippe Nr. 198385, der kompliziertesten Uhr, die ohne Computerhilfe je zustandekam. Jedes der 1580 Teilchen ist ein Unikat, von Hand gefertigt.

 

24 Komplikationen können auf zwei Seiten abgelesen werden: 

  • Die normale Zeit mit Stunden, Minuten und Sekunden. 
  • Die siderische Zeit (Sternenzeit) mit Stunden, Minuten und Sekunden. 
  • Die Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeit für New York City. 
  • Die Equation (Unterschied zwischen wahrer Sonnenzeit und mittlerer Sonnenzeit). 
  • Ewiger Kalender mit Datum, Wochentag und Monat sowie den Mondphasen und dem Sternenhimmel über New York City. 
  • Chronograph mit Schleppzeiger für die Stopsekunde und Anzeige der gestoppten Sekunden, Minuten und Stunden. 
  • Grande Sonnerie. 
  • Petite Sonnerie. 
  • Minutenrepetition. 
  • Wecker. 
  • Gangreserveanzeige für das Uhrwerk. 
  • Gangreserveanzeige für das Schlagwerk. 

Der Auftraggeber Henry Graves, ein Bankier, erhielt am 19. Januar 1933 in New York von Patek Philippe die Uhr für 30’000 Dollar ausgehändigt. Am 11. November 2014 kam sie bei Sotheby’s für 21,3 Millionen Dollar unter den Hammer. Nach dem Auftraggeber heisst sie Graves Supercomplication. Zu Henri-Daniel Piguet aber haben die Presseabteilungen von Patek Philippe und Breguet keine Informationen zu liefern, so wenig wie das Museum „Espace Horloger“ an der Grand-Rue 2 von Le Sentier.

 

Was lehrt die Geschichte? Der Schöpfer lebt nach der Devise: „Servir et disparaître.“ Esse quam videri.

 

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