Marcel Imsand: Fotograf.

15. September 1929 – 11. November 2017.

 

Aufgenommen am 8. Mai 1988 in Lausanne.

Marcel Imsand – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Auf ihrem Portal stellen die „Plans Fixes“ den Filmen eine Kurzzusammen­fassung voran. Zu Marcel Imsand heisst es: „Diese Geschichte von Begeg­nungen, welche die Liebe erleuchtet, wird uns mit rarer Emotion und Intensität erzählt.“ (Cette histoire de rencontres illuminées par l’amour nous est contée avec une émotion et une intensité rares.) Paradoxerweise ist es gerade die Spracharmut des Fotografen, welche das bewegende Erlebnis auslöst. Sie beglaubigt nämlich sein reines Herz, seine „candeur“. <

 

Marcel Imsand braucht nicht länger als eine Minute zu reden, damit man weiss, dass er aus sehr bescheidenem Milieu herkommt. Der Vater war bloss Handlanger. Der Sohn jedoch findet das Wort „manoeuvre“ entwürdigend und nennt ihn „Arbeiter“. Vater Fritz Imsand verdiente sein Brot auf Baustellen. Sie befanden sich – wir sind in den frühen dreissiger Jahren – so weit von zuhause weg, dass der Sohn die ersten sieben Jahre bei den Grosseltern verbringen musste. Auf diese Weise konnte auch die Mutter einem Erwerb nachgehen.

 

Die frühe Kindheit legte eine Basis der Liebe in Marcels Herz. Im Greyerzerland bewirtschafteten die Grosseltern einen kleinen Bauernhof. Imsand: „Dort habe ich heute noch meine Wurzeln.“ Marcel erfuhr das Gefühl fragloser Geborgenheit. Nachts schliefen alle im selben Bett. Auch wenn er gelegentlich Vater und Mutter vermisste – die Welt war heil.

 

Im Schulalter konnte er zu den Eltern ziehen. Die Schokoladefabrik in Broc war ein mächtiger Arbeitgeber. Doch Marcels Vater fand dort keine Beschäf­tigung. Denn er war Sozialist. Im schwarzkatholischen Kanton Freiburg war das eine Sünde. „Mir wurde später erzählt, ich solle als Kind die Arbeiter beschimpft haben, die zu Cailler gingen", erinnert sich Marcel Imsand. Das Kind hatte Mitleid mit dem Vater, der den Baustellen nachfahren musste, bis die Familie in den Kanton Neuenburg kam. In Saint-Aubin gab es Arbeit in einer mechanischen Fabrik. „Welch ein Glück“, dachte Marcel. „Jetzt ist der Vater am Warmen!“

 

Marcel arbeitete später in der gleichen Fabrik und machte eine Lehre als Fein­mechaniker. Er liebte die Arbeit: „Mechanik bedeutet Schönheit, Feinheit, Genauigkeit.“ Mit diesem Ethos betrieb er auch sein Hobby: das Fotografieren. Als Mitglied des Fotoklubs Neuenburg saugte er die Anweisungen tief ein, die ihm die Instruktoren gaben: „Ihre Lehren waren so wertvoll, dass ich sie noch heute befolge“, sagt der 59-jährige Berufsfotograf, auch wenn er weiss, dass die Amateurfotografie von der Zunft belächelt wird.

 

Als er nach Lausanne kam, zog ihn das Théâtre du Beaulieu an: Das Leben hinter den Kulissen. Die Vorbereitung der Künstler auf ihren Auftritt. Der Blick von der Seite auf das Spiel. Zwar wurde Maurice Imsand vom Inspi­zienten immer wieder verscheucht. Doch kehrte er gleichwohl immer wieder ins Haus zurück. Da trat eines Tages der Direktor auf ihn zu: „In ein paar Tagen kommt Maurice Béjart mit seiner Truppe auf ein Gastspiel. Können Sie es fotografisch dokumentieren?“

 

Damit verschärfte sich Maurice Imsands Arbeitsrhythmus. Nach der Fabrik ging er ins Theater, und nach dem Theater ins Badezimmer. Dort entwickelte er die Bilder bis zwei, drei Uhr früh auf einem Brett über der Wanne. Der Spagat wurde gesundheitsgefährdend. „Am Ende“, erzählt Michel Bory, der Interviewer, „stellte dich der Arzt vor die Alternative: Entweder die Fabrik oder das Fotografieren. Aber beides zusammen geht nicht länger!“

 

„Ich hätte nie daran gedacht, mich zum Profifotografen zu machen“, versichert Marcel Imsand. „Die Arbeit in der Fabrik gefiel mir. Ich zählte 35 Jahre, hatte drei kleine Kinder. Es war ein Wagnis, mich selbständig zu machen. Doch sagte ich mir: Versuch’s! Wenn du nach paar Monaten siehst, dass es nicht klappt, kannst du immer noch in die Fabrik zurück. Ich hatte ja Glück. Meine Frau war nicht ängstlich. Wenn ich spätnachts nach Hause zurückkam, fragte sie mich nie: ‚Wo bist du gewesen?‘“

 

Um die aussergewöhnlichen Bilder zu erklären, die von nun an entstehen, braucht Marcel Imsand in seiner Spracharmut nur das Wort Liebe. Er meint damit, dass sich eine tiefe Beziehung zwischen dem Fotografen und dem Objekt einstellen müsse, damit der Mensch, die Sache, die Landschaft aufgehen und sich in voller, ungeschützter Reinheit dem Betrachter preisgeben.

 

Was Marcel Imsand beim Fotografieren erfahren hat, gilt für alle lebendigen Künste. Über „Platée“ schrieb „Die Stimme die Kritik für Bümpliz und die Welt“ im vergangenen Herbst:

 

Inszenieren ist ein Liebesakt. Wenn man das Werk sensibel anfasst, geht es auf und steuert das Seine bei, damit aus dem Zusammenspiel von Umwerbung und Gewährung ein neuer, lebensfähiger Organismus zur Welt kommt, von dem nach der Geburt alle überzeugt sind: „So ein schönes Kind gab es noch nie!“ Dieses Geschick vollzieht sich nun mit Platéé, dem hässlichsten Wesen unter der Sonne, für das Jean-Philippe Rameau die entzückendste Barockoper geschrieben hat. Und die Semperoper Dresden gibt ihm eine Gestalt, die es uns nahe­bringt. 

 

Den künstlerischen Wert der Liebe kannte auch Richard Strauss. Als er mit seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal erwog, wo die Oper „Ariadne auf Naxos“ zur Uraufführung kommen könne, schrieb er:

 

Liebe braucht ein solches Ding, Enthusiasmus, imprévu braucht eine Bühne, die bewusst ist, heute das Ausserordentliche zu leisten, nicht die entsetzliche Atmosphäre des Gewöhnlichen, die graue Routine, den Dirigenten mit kaltem Herzen, die Opernsänger, die es eben herunter­singen. Ums Leben muss es allen gehen, das Unmögliche muss möglich gemacht werden.

 

Man kann den Ansatz, sein Werk mit Liebe zu realisieren, ins Ausserkünst­lerische hinüberziehen. Dann gestaltet er sich, Nietzsche zufolge, in der Form von …

 

Wohlwollen. – Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und deshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Äusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Tun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zutat zu dem, was für ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Betätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmütigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Kultur gebaut, als jene viel berühmteren Äusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie geringzuschätzen, und in der Tat: es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesamte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. — Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst.

 

Vor diesem Hintergrund wird das Porträt von Marcel Imsand durch das, was er zu sagen versucht und was er im Film durch seine Fotoaufnahmen zeigt, zu einem tiefgreifenden Manifest für Feinheit, Genauigkeit und Schönheit. „Mit rarer Emotion und Intensität“, erklärt die Zusammenfassung, spreche der Film zum Betrachter. Und warum? Weil die grossen Künstler in ihrem Innersten bescheiden sind; bei allem, was sie tun, zeigen sie Zartheit und Ehrfurcht vor der Sache. Marcel Imsand hat es erlebt. Er spricht davon und dokumentiert es auch selbst durch Werk und Person. Der Kritiker aber geht mit der Laterne herum und sucht genau diese Art von Menschen unter der Menge ...

 

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