Mousse Boulanger: Eine Stimme für die Poesie.

3. November 1926 – 16. Januar 2023.

 

Aufgenommen am 18. März 2000 in Mézières.

Mousse Boulanger – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> mit, in, für – jede dieser Partikel trifft auf sie zu: Mousse Boulanger verbrachte ihr Leben mit der Poesie, in der Poesie und für die Poesie. Dabei wurde sie mehrfach verwandelt. Sie legte ihre Vornamen Berthe Sophie ab und wurde Mousse. Den Mädchennamen Neuenschwander vertauschte sie mit Boulanger, dem Namen ihres Mannes, der seinerseits den Geschlechtsnamen Hostettler abgelegt hatte. Die beiden schufen miteinander ein eigenes Reich, das Reich der Poesie, und darin waren sie gleichzeitig Herrscher, Schöpfer, Botschafter und Diener. <

 

Kulturgeschichtlich betrachtet, sind Pierre und Mousse Boulanger Enkel von Stefan Zweig und seiner Generation. Indem die Grossväter – Stefan Zweig und seine Generation – die Lyrik entdeckten, emanzipierten sie sich von der Kultur der Urgrossväter. Den Aufbruch der Jugend am Fin de siècle beschreibt der Europäer in der „Die Welt von gestern“:

 

Wir wussten mehr als unsere armen Lehrer, die seit ihrer Studienzeit aus eigenem Interesse nie mehr ein Buch aufgeschlagen hatten. Just was noch nicht allgemein anerkannt war zu kennen, das schwer Zugängliche, das Verstiegene, das Neuartige und Radikale provozierte unsere besondere Liebe; nichts war darum so verborgen, so abseitig, dass es unsere Neugier nicht aus seinem Versteck hervorholte. Ich kannte mit siebzehn Jahren nicht nur jedes Gedicht Baudelaires oder Walt Whitmans, sondern wusste die wesentlichen auswendig. Einmal erzählte ich meinem verehrten Freunde Paul Valéry, wie alt eigentlich meine literarische Bekanntschaft mit ihm sei; ich hätte vor dreissig Jahren schon Verse von ihm gelesen und geliebt. Valéry lachte mir gutmütig zu: „Schwindeln Sie nicht, lieber Freund! Meine Gedichte sind doch erst 1916 erschienen.“ Aber dann staunte er, als ich ihm haargenau in Farbe und Format die kleine literarische Zeitschrift beschrieb, in der wir 1898 in Wien seine ersten Verse gefunden. „Aber die hat doch kaum jemand in Paris gekannt“, sagte er verwundert, „wie konnten Sie sich die denn in Wien beschafft haben?“ „Genau so wie Sie sich als Gymnasiast in ihrer Provinzstadt die Gedichte Mallarmés, die die offizielle Literatur ebenso wenig kannte", konnte ich ihm antworten. Und er stimmte mir zu: „Junge Leute entdecken sich ihre Dichter, weil sie sie sich entdecken wollen.“

 

Die Generation von Zweigs Söhnen hatte die neue Poesie schon assimiliert und brachte die kulturelle Hochschätzung der Lyrik in den Unterricht. Der Französischlehrer und spätere Professor für französische Philologie an der Universität Bern Roland Donzé trug seit Jugendtagen stets ein Gedichtbändchen bei sich, das er aufschlug, wann immer er irgendwo warten musste, an der Tramhaltestelle oder im Restaurant; dann las er zwar lautlos, bewegte aber die Lippen, und im Gesicht spiegelte sich der Ausdruck der Verse, während in seinem Innern „la petite musique“ erklang, untrügerisches Kennzeichen von Stil, das er auch bei hochstehender Prosa wiederfand, bei Sigmund Freud selbstverständlich, aber auch bei Walther Killy, Heinrich Wölfflin, Emil Staiger und Jacob Burckhardt.

 

Auch Donzés Universitätskollege > Pierre Olivier Walzer, der feinsinnige Interpret schwieriger Autoren, brachte in seiner Anfangszeit als Französischlehrer am Gymnasium von Pruntrut die Schüler mit der Gegenwartskunst zusammen. Der Schauspieler > Hugues Aufair erinnert sich: „Wir verglichen Braque und Picasso mit Ravel und Strawinsky. Eine unvergessliche Erfahrung.“ An der Schule wirkte ebenfalls > Jean Cuttat, der Lyriker des späteren Kantons Jura: Bei den Zusammenkünften des jurassischen Volkes (Fêtes du peuple jurassien) reziterte er seine Gedichte vor Tausenden von Zuhörern. Mit den Lyrikvorträgen bekannten sich die Separatisten zur lateinischen Kultur und grenzten sich damit ab gegenüber den Bernern mit ihrem schriftlosen Dialekt. – Mousse aber ging durch Cuttats Unterricht, wie auch durch den Walzers. Kein Wunder, sprang gleich der Funke, als sie dem jungen Schauspieler Pierre Boulanger begegnete. Es war Liebe auf den ersten Blick.

 

Am Tag nach der ersten Bekanntschaft sagte Pierre zu seiner Mutter: „Soeben habe ich die Frau kennengelernt, die ich heiraten werde.“ Pierre und Mousse legten indes nicht nur ihre Lebensbahn zusammen, sondern auch ihr Lebensprojekt: Vermittlung von Lyrik. Dies nicht durch universitäre Interpretation, nicht durch schlichte Vorlesung, sondern durch szenische Realisationen, die alle Sinne ansprachen. Damit trugen die Boulangers, Enkel der Zweig-Generation, die Fackel der Lyrik weiter: In die Schulen, in die Kulturhäuser, ans Festival von Avignon und in Radio Suisse Romande.

 

Im Studio Lausanne bekamen sie eine Lyriksendung. Sie wurde anfangs nur auf Sottens ausgestrahlt, der einzigen Frequenz, die der Schweizerischen Rundspruch-Gesellschaft (SRG) zur Verfügung stand. Deshalb geriet, wer in der Westschweiz nachts um 22:45 Uhr noch das Radio einschaltete, unweigerlich in die „Tribune des poètes“ oder die „Poésie universelle“. Dort, auf der Mittelwelle, entfaltete sich die grenzüberschreitende Kraft des dichterischen Sprechens, und sie reichte, unter guten atmosphärischen Bedingungen, bis hinunter nach Lyon, Marseille, Neapel, Barcelona und Algier.

 

Neben der Radioarbeit tourten Pierre und Mousse Boulanger zwischen 1960 und 1978 mit 90-Minuten-Programmen unter dem Namen „Marchands d’images“ durch ganz Europa. Sie verfügten über ein Repertoire von acht Stunden, das sie der Zuhörerschaft anpassten – vom Kindergarten übers Theaterpublikum bis zur literarischen Gesellschaft.

 

Dann starb am 28. Oktober 1978 Pierre unvermittelt im Alter von 50 Jahren. Er hatte sich in Afrika einen tödlichen Virus zugezogen. Mousse erfuhr das Ableben, wie sie sagt, als Verlust der Hälfte ihrer selbst: „Mehr als ein halbes Jahr konnte ich nicht mehr aufrecht gehen. Ich hinkte. Aber das Radio war wunderbar. Es trug mich durch. – Als es mir besser ging, durfte ich die Sendung wieder aufnehmen. Jetzt aber war der Stuhl mir gegenüber leer. Und hinter der Scheibe sah ich die Technikerin weinen.“

 

Nach vier Jahren nahm Mousse Boulanger auch die szenische Darbietung von Gedichten wieder auf, jetzt halt solo. Daneben setzte sie das Schreiben fort: Gedichte, Erzählungen, Romane, Artikel, Essays. Sie wirkte in Literaturjurys mit und trug das Engagement für „Dichter und ihre Gesellen“ (so der Titel eines Romans von Eichendorff) in die Gremien: als Präsidentin des Schweizerischen Verbands der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, der Association vaudoise des écrivains, der Kommission der schweizerischen Landesbibliothek und ProLitteris, der schweizerischen Gesellschaft für Urheberrechte.

 

Mousse starb am 16. Januar dieses Jahres im Alter von 96 Jahren. Mézières, die Wohngemeinde des Ehepaars, benannte 1981 einen Weg nach Pierre (Chemin Pierre-Boulanger), und Buttes, Pierres Geburtsort, 2012 ein Strässchen (Ruelle Pierre-Boulanger). Für die Adresse in Mézières weist das Telefonverzeichnis 14 Einträge aus, für Buttes 6.

 

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1785–90):

 

Der Horizont war schon verdunkelt; der Himmel schien in der trüben Dämmerung allenthalben dicht aufzuliegen, das Gesicht wurde auf den kleinen Fleck Erde, den man um sich her sah, begrenzt – das Winzige und Kleine des Dorfes, des Kirchhofes und der Kirche tat auf Reiser eine sonderbare Wirkung – das Ende aller Dinge schien ihm in solch eine Spitze hinauszulaufen – der enge dumpfe Sarg war das letzte – hierhinter war nun nichts weiter – hier war die zugenagelte Bretterwand – die jedem Sterblichen den fernern Blick versagt. – Das Bild erfüllte Reiser mit Ekel – der Gedanke an dies Auslaufen in einer solchen Spitze, dies Aufhören ins Enge, und noch Engere, und immer Engere – wohinter nun nichts weiter mehr lag – trieb ihn mit schrecklicher Gewalt von dem winzigen Kirchhofe weg, und jagte ihn vor sich her, in der dunklen Nacht, als ob er dem Sarge, der ihn einzuschliessen drohte, hätte entfliehen wollen.

 

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