Charles Bonnet: Die Spuren des Menschen.

15. März 1933 –

 

Aufgenommen am 22. Februar 2016 in Satigny.

Charles Bonnet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Charles Bonnet begann seine Laufbahn als Winzer. Er lernte den Beruf, gründete eine Familie, übernahm den väterlichen Betrieb und stand ihm vor, bis der Sohn soweit war, die Nachfolge anzutreten. Daneben heimste er ein Dutzend Medaillen ein (unter anderem vom Collège de France, dem Institut de France und der Sorbonne) sowie drei Ehrendoktorate. Seine wissenschaftliche Arbeit hatte nämlich dazu geführt, dass die Geschichte unserer Voreltern neu geschrieben werden musste. <

 

Manche Entdeckung ist dem Zufall zu verdanken. Dieser Tatsache widmete > Nicolas Perrin seine Abschiedsvorlesung an der Universität Lausanne, und er verwendete dafür das Wort Serendipität: „Serendipität ist ein englischer Begriff. Er bezeichnet eine zufällige Entdeckung. Der Forscher sucht nach etwas Bestimmtem und stösst dabei auf etwas Unerwartetes. Dafür muss er offen sein. Denn das Unverhoffte hilft ihm manchmal, Neues zu entdecken.“ Wikipedia nennt berühmte Beispiele: die Entdeckung des Benzolrings, des Penicillins, des Viagra, des Teflons, des Post-it, des Silikons, des Linoleums, des Teebeutels und der Nylonstrümpfe.

 

Auch Charles Bonnets Erfolge standen unter dem Zeichen der Serendipität. Als Archäologiestudent, der unbedingt etwas ausgraben wollte, kam er in den Sudan. Für Ägypten war er noch nicht avanciert genug; es fehlten ihm Papiere und Diplome. Afrika aber verlangte derlei nicht. Darum wies ihm der Professor als Übungsstück Kerma zu; die Stätte schien ihm für einen Anfänger bewältigbar.

 

Kurz nachdem Charles Bonnet die Arbeit aufgenommen hatte, besuchte ihn der Leiter der sudanesischen Archäologie. Er bot ihm eine bedeutendere Ausgrabungsstätte an. Offenbar hatte sich die Tüchtigkeit des jungen Schweizers schon herumgesprochen. Doch der Winzer blieb dem Erdenfleck treu, auf dem er stand. Die einen sprechen von Intuition, die andern von höherer Fügung, die dritten von Serendipität.

 

Bei den Grabungen stiess das Team nämlich auf den Anfang einer Treppe: Erst eine, dann zwei, schliesslich drei Stufen. Es hätte sie aber nicht geben sollen. Bei ihrer Entdeckung erging es den Forschern wie Stephan von Sala in Arthur Schnitzlers Schauspiel „Der einsame Weg“:

 

Kennen Sie vielleicht den Bericht von Rolston über die Ausgrabungen vom Jahr 1892? Denken Sie, unter dem Schutt und Staub vermutet man eine Riesenstadt, etwa von der Ausdehnung des heutigen London. Damals sind sie in einen Palast hinuntergestiegen. Und Stufen haben sie ausgeschaufelt, dreihundertzwölf Stufen, die in eine unbekannte Tiefe hinabführen … unbekannt, denn bei der dreihundertzwölften Stufe haben sie aufgehört zu graben – weiss Gott, warum! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich diese Stufen intrigieren. Denken Sie nur: mit eigenen Augen sehen, wie solch eine begrabene Stadt allmählich aus der Erde hervortaucht, Haus um Haus, Stein um Stein, Jahrhundert um Jahrhundert.

 

Auch Charles Bonnet und sein Team konnten das Ende der Treppe nicht freilegen. Sie führte ins Grundwasser. Nach zwei Metern mussten sie aufgeben. Aber sie hatten schon so viel gefunden, dass sie zu begreifen begannen, dass Kerma von Wellen ägyptischer, nubischer und schwarzafrikanischer Zivilisation geformt worden war. Und da lag der Punkt. Bisher hatte man stets von einem geschichtslosen schwarzen Afrika gesprochen. Doch nun zeichnete sich ab, dass es dort vor viereinhalbtausend Jahren schon hochentwickelte Städte gegeben hatte, die in Konkurrenz zu Ägypten und Nubien gestanden waren.

 

Mit seinen Erkenntnissen half Charles Bonnet, die Archäologie neu zu definieren. Betrachtete sie sich vorher als blosse „Erdwissenschaft“, so begann sie nun – im Wettstreit mit den Architekturhistorikern – ebenfalls zu deuten, was aus dem Boden ragt. Der Ansatz führte zu zahlreichen Neuschreibungen und Präzisierungen der Geschichte. Am Umwerfendsten vielleicht in Genf.

 

Als Kantonsarchäologe hatte Charles Bonnet den Auftrag, die Kathedrale zu restaurieren. Nun tauchte auch hier, auf dem Hügel über dem Knie der Rhone, „eine begrabene Stadt allmählich aus der Erde hervor, Stein um Stein, Jahrhundert um Jahrhundert“. Am Ende waren hundert­fünfzig verschiedene Schichten an der Cathédrale Saint-Pierre freigelegt. Es gab vier Vorgänger­bauten.

 

Charles Bonnet war es wichtig, die Grabungen so transparent als möglich zu machen. Das Publikum hatte Zutritt. Es sah, dass der Chef seine besten Leute aus dem Sudan mitgebracht hatte, die, gekleidet in Turban und traditionelle Kleidung, mit begnadeten Händen einen Fund nach dem andern aus der Tiefe des soge­nannten protestantischen Rom ans Licht brachten.

 

Die Beschäftigung mit der Geschichte, die Tausende von Jahren hinter die Schrift zurückreicht, und die Erfahrung mit den Helfern führten bei Charles Bonnet zu tiefem Respekt vor fremden Menschen und Kulturen. Und ohne dass er es anstrebte, wurde er für alle, die mit ihm zu tun bekamen – auch die Zuschauer der „Plans fixes“ –, zum Vorbild.

 

Nun gibt die Begegnung mit dem 82-Jährigen eine überzeugende Antwort auf die Klage, die August Graf von Platen in die Zeilen brachte:

 

Wer wusste je das Leben recht zu fassen,

Wer hat die Hälfte nicht davon verloren

Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,

In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

 

Die Begegnung mit Charles Bonnet zeigt: Der sinnvolle Weg geht andersrum.

 

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