Jean Starobinski: Kritiker und Schriftsteller.

17. November 1920 – 4. März 2019.

 

Aufgenommen am 12. November 1986 in Genf.

Jean Starobinski – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der Genfer Gelehrte Jean Starobinski – je nach Lexikon Essayist, Ideen­historiker, Schriftsteller, Literaturkritiker, Arzt, Psychologe, Professor – hinterliess bei seinem Tod im Alter von 98 Jahren einen der grössten Nachlässe, den das Literaturarchiv der schweizerischen Nationalbibliothek je zu bewältigen hatte. Dafür musste die Institution Extrakräfte mobilisieren, denn die Interessen des Mannes hatten sich in einer ungewöhnlich hohen Zahl von Büchern, Schriften und Korrespondenzen verdinglicht. <

 

Im Gespräch, das die Aufnahme der „Plans Fixes“ wiedergibt, sind zwei Stimmen zu hören. Die eine ist jung, unsicher, zögernd, mit verschlungenen, rhythmisch unregelmässigen Satzgebilden, die nur umständlich zum Punkt kommen. Die andere wirkt gleichmässig, gelassen, reif, klar, souverän in sich ruhend. Die eine Stimme ringt mit dem Gegenstand, die andere beherrscht ihn.

 

Dreissig Lebensjahre trennen die beiden Stimmen. Die eine Stimme gehört einem 37-Jährigen, der nach beruflichen Turbulenzen eine Neuorientierung sucht; die andere einem 66-Jährigen, der soeben seine Professur niedergelegt hat, um sich, wie er sagt, vertieft den einfachen, aber grossen Fragen zu widmen: Was ist der Tag? Was ist der Körper? „In den beiden leben wir, ohne sie recht zu begreifen, geschweige denn zu erfassen. Da Licht hineinzubringen, ist eine faszinierende Aufgabe“, erklärt die ruhige Stimme.

 

Die unsichere Stimme gehört Florian Rodari. Er möchte einem Mann gerecht werden, der „ein umfangreiches und bedeutendes literatur- und kunstkri­tisches Werk“ geschaffen hat, „für das er eine Vielzahl von Preisen erhielt“ (Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie). Dafür bringt Rodari in schwammigen Sätzen alle Aspekte zur Sprache, die die Welt zu Jean Starobinski in Erinnerung behalten soll.

 

Die grossen Nachschlagewerke haben die Hauptsachen aufgelistet:

 

1957 veröffentlichte Starobinski sein wegweisendes Buch „Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle“ (deutsch „Rousseau. Eine Welt von Widerständen“); es zeigt deutlich seine pluralistische Interpreta­tions­weise, die philosophische, philologische und psychoanalytische Ansätze einbezieht.

(Brockhaus)

 

Auf der Grundlage einer „schwebenden Aufmerksamkeit“ lässt sich der kritische Leser auf den Text ein und versucht, die hinter der referen­ziellen Ebene verborgenen Phänomene aufzuspüren. Der Kritiker erliegt dem Zauber des Texts und erhält sich gleichzeitig das Recht auf den analysierenden Blick, der innerhalb des dynamischen Rahmens einer Dialektik von Nähe und Distanz den interpretatorischen Erkenntnis­gewinn begründen soll. So ergibt sich die eigentliche Methode erst im Verlauf der kritisch orientierten Lektüre, sie ist nicht mehr und nicht weniger als ein „trajet critique“, in dessen Verlauf es dem Text als lebendigem Organismus zu begegnen gilt.

(Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie)

 

Was die Interpreten über Starobinski sagen, sagt nun Starobinski selbst. Ruhig ins Zweiersofa zurückgelehnt, mit offener Haltung der Arme, die Hände leicht geschlossen wie > Denis de Rougemont, entwickelt er in überlegener Rede seine Gedanken dermassen klar und wohlformuliert, dass man sie ohne Korrektur in den Druck geben könnte. Das ist gleichzeitig ehrfurchtgebietend und charak­teristisch. Es zeigt Jean Starobinskis schriftstellerisches Ethos. Er plädierte, sagt das Metzler Lexikon,

 

für eine Kritik, die sich nicht mit nachprüfbarem Wissen begnügt, sondern das Wagnis eingeht, selbst literarischen Status einzunehmen: „Elle doit se faire œuvre à son tour, et courir les risques de l’œuvre“. Mit seinem eigenen Werk hat Starobinski dies sehr eindrucksvoll bewiesen.

 

Die Grösse von Jean Starobinskis intellektueller Statur führte dazu, dass die französischsprachigen Universitätsangehörigen seinen Namen in der Konversation zu „Staro“ abkürzten, gleich wie sie in der Westschweiz > Pierre-Olivier Walzer mit „POW“ bezeichneten (ausgesprochen: „pof“).

 

Gegenüber Staros Erhabenheit befleissigt sich nun Florian Rodari, in Frageform die Stichworte „philosophisch“, „philologisch“ und „psycho­analytisch“ einzubringen, die den Ansatz des Essayisten, Schriftstellers, Ideenhistorikers, Literaturkritikers, Professors, Arzts und Psychologen charakterisieren, und der Porträtierte kann dazu in klarer, gleichmässig wohlgedrechselter Rede seine Statements abgeben. Wenn ihm etwas besonders gut gelungen ist, erscheint in seinem Gesicht ein schönes, reines Lächeln, das zeigt: Es geht ihm nicht um Eitelkeit, sondern um Wiedergabe von Erkenntnis.

 

Aber im pulsierenden Leben, in dem man keine Rolle spielt, sondern auf eine neue Frage oder einen anderen Menschen wirklich eingeht, kann man nicht so reden, wie es Jean Starobinski in der Filmaufnahme vorführt. So kann man nur reden, wenn man nicht mehr zu denken braucht, sondern sich als Denkmal seiner selbst damit begnügen kann, bereits Gedachtes zu wieder­holen. Denken jedoch heisst den Faden verlieren, sagte Paul Valéry. (Penser c’est de perdre le fil.)

 

Als der Literaturwissenschafter und Schriftsteller Hans Mayer 1986 sein Buch „Das unglückliche Bewusstsein – Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine“ erscheinen liess, lud Literaturredaktor Hans Ulrich Probst den 79-Jährigen zur Sendung „52 beste Bücher“ ins Radiostudio Basel ein. Von der Regiekabine aus verfolgte ich das Gespräch der beiden, und als wir nach der Aufnahme zum Studiorestaurant hinübergingen, sagte ich anerkennend zum grossen Mann: „Ich bin begeistert von Ihren Ausfüh­rungen. Ich habe so viel Wertvolles erfahren. Sie haben in freier Rede eine halbe Stunde Radio produziert, und wir brauchen nur zwei Schnitte zu machen.“ „Ach wissen Sie“, murmelte Mayer, „in meinem Alter hat man seine Plattensammlung“.

 

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