Graziella de Coulon: Graziella de Coulon sagt ja zum Nein.

29. August 1946 –

 

Aufgenommen am 25. März 2022 in Clarens.

Graziella de Coulon – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Am Schluss der Aufnahme für die „Plans Fixes“ ruft Graziella de Coulon nochmals die Grundtatsache in Erinnerung: „Das habe ich nicht allein gemacht; das waren wir!“ Umgeben von Gesin­nungs­genossen setzte sich die 75-jährige Aktivistin ihr ganzes Leben hindurch für das Richtige ein, nahm in Kauf, dass es vielen nicht passte, und hielt dafür den Kopf hin. <

 

Graziella de Coulon ist eine Instinkttäterin. Sie handelt nicht, weil Programm, Doktrin oder Ideologie das von ihr verlangen, sondern weil sie von innen her muss. Damit ist ihre Handlungsweise angeboren, Bestandteil des Charakters, gesteuert von der DNA (wie das man in unseren Tagen gerne ausdrückt). Sie ist also eine Verwandte von Antigone – aber auch eine Verwandte von Freud und seinen Kindern.

 

In einem Brief an den befreundeten amerikanischen Neurologen James J. Putnam schrieb der Begründer der Psychoanalyse aus Wien, Berggasse 19:

 

Wenn ich mich frage, warum ich immer gestrebt habe, ehrlich, für den anderen schonungsbereit und womöglich gütig zu sein, und warum ich es nicht aufgegeben habe, als ich merkte, dass man dadurch zu Schaden kommt, zum Amboss wird, weil die anderen brutal und unverlässlich sind, dann weiss ich allerdings keine Antwort. Vernünftig war es natürlich nicht. Einen besonderen ethischen Ansporn habe ich in der Jugend auch nicht empfunden; es fehlt mir auch eine deutliche Befriedigung dabei, wenn ich urteile, dass ich besser bin als die anderen! Warum ich – übrigens meine sechs erwachsenen Kinder ebenso – ein durchaus anständiger Mensch sein muss, ist mir ganz unverständlich.

 

Menschen, die sich ohne Schonung ihrer selbst für das Richtige einsetzen, leben gefährlich. Sie gehen das Risiko ein, angeklagt, verhaftet, beseitigt zu werden. Darum sind sie selten. Sie stören alle: Die Machthaber und die Profiteure, aber ebenfalls die Ängstlichen, die Angepassten, die Feigen, die Egoisten. (Dürrenmatt veröffentlichte über sie ein Buch unter dem Titel „Die Mitmacher“, und ausserdem schleuderte er ihnen einen bis heute gespielten Schauspielklassiker ins Gesicht: „Der Besuch der alten Dame“.)

 

Instinkttäter tun einfach von sich aus das Richtige. Sie überlegen nicht. Freud:

 

Ich war mit meiner Begabung immer unzufrieden und weiss vor mir genau zu begründen in welchen Punkten; aber ich halte mich für einen sehr moralischen Menschen, der den guten Ausspruch von Theodor Vischer unterschreiben kann: „Das Moralische versteht sich immer von selbst.“

 

Was diese Haltung für Folgen hat, malte der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen in seinem Schauspiel „Ein Volksfeind“ aus: Der Arzt, der an einem Badeort die Verseuchung des Wassers nachweist, wird von Behörden und Volk der Existenz beraubt. Das Drama ereignet sich im 19. Jahrhundert; ist also noch human gemessen an dem, was gegenwärtig in Russland, China, Afghanistan, Pakistan, Weissrussland, Saudi-Arabien, Iran den Wahrheits­liebenden zustösst, zu schweigen von der Unterdrückung in den unzähligen „failed states“.

 

Zu den Menschen, welche „die kompakte Majorität“ (Ibsen) gegen sich aufbringen, gehört Graziella de Coulon, die 359. Persönlichkeit in der 1977 eröffneten Galerie der grossen Westschweizer. An ihr exemplifiziert sich, was der Wiener Seelen- und Gesellschaftsschilderer Arthur Schnitzler in seinem Meisterdrama „Professor Bernhardi“ ausführte:

 

Bernhardi: Ich habe nicht im entferntesten daran gedacht, irgendeine Frage lösen zu wollen. Ich habe einfach in einem ganz speziellen Fall getan, was ich für das Richtige hielt.

 

Hofrat: Das war eben das Gefehlte. Wenn man immerfort das Richtige täte, oder vielmehr, wenn man nur einmal in der Früh, so ohne sich’s weiter zu überlegen, anfinge, das Richtige zu tun und so in einem fort den ganzen Tag lang das Richtige, so sässe man sicher noch vorm Nachtmahl im Kriminal [= Zuchthaus].

 

Obwohl sich Graziella de Coulon ein paarmal gefährdet vorkam, so hatte sie, im Gegensatz zu den vielen anderen, die in ihrem Sinn handeln, das Privileg, in der Schweiz zu wirken: „Ihr lebt auf einer Insel der Seligen!“, pflegt der Gesandte des österreichischen Aussenministeriums Dr. Georg Oberreiter zu unterstreichen (gegenwärtig auf Posten in Rumänien).

 

Und so passierte zu ihrem Erstaunen nichts, als sie sich – Graziella de Coulon war noch keine zwanzig Jahre alt – weigerte, für den Besitzer der Metallwerke Monteforno (mit 1750 Beschäftigten der grösste Arbeitgeber im Kanton Tessin) einen Brief zu tippen, in dem der Chef verlangte, dass die Firma die Heizung für sein Ferienhaus übernehme. Im Innern hatte sie gezittert und einen Verweis erwartet, wenn nicht gar eine „Konsequenz“. Aber nichts passierte.

 

Dieselbe Erfahrung wiederholte sich ein wenig später, als sie im Betreibungs­amt das Sekretariat versah. Graziella de Coulon war angewiesen, einer Familie die Hühner einzusammeln. Sie protestierte: „Die Leute haben nichts. Und jetzt sollen wir ihnen noch die Hühner wegnehmen? Das ist unmenschlich! Das tue ich nicht.“ Wieder geschah nichts. Die Familie behielt ihre Hühner, und die Sekretärin ihren Posten. Da ging ihr auf: „Man muss nicht allem seinen Lauf lassen! Man kann etwas machen!“

 

Die Einsicht wurde zur Devise ihres Lebens. Graziella de Coulon schuf in Genf einen selbstverwalteten Kiosk, aus dem eine selbstverwaltete Buchhandlung entstand, die noch heute existiert: „Dafür bin ich stolz und dankbar.“ Für das Geschäft schmuggelte sie verbotene und oppositionelle Bücher aus Frankreich über die Grenze. „Einmal wurden wir angehalten. Wir sagten, wir hätten nichts zu verzollen, mussten aber trotzdem den Koffer öffnen. Und da lag ausgerechnet der Titel zuoberst: ‚Mama, vögle mich noch einmal!‘ (Maman, baise-moi encore!)“

 

Der Mann an Graziellas Seite war Arzt. Sie hatten sich in einem Friedenscamp kennengelernt. Als Dienstverweigerer hatte er für seine Gesinnung mit Gefängnis gebüsst. „Heute gibt es den Zivildienst. Sehen Sie, Widerstand nützt etwas!“ – Mann und Frau zogen ein Leben lang am gleichen Strick. Gemeinsam verfügten sie über das Einkommen, das der Mann erwarb. Die Frau besorgte den Haushalt und kümmerte sich um die drei Töchter: „Ich weiss, dass die harten Feministinnen sagen, dass gehe nicht. Aber ich definiere mich nicht über die Ökonomie. Als Hausfrau geniesse ich totale Freiheit. Ich bin mein eigener Herr und Meister, keiner redet mir drein, auch nicht mein Mann. Und wenn es heisst, Kindererziehung sei anstrengend, so waren für mich die drei Töchter das reinste Geschenk.“

 

Die Instinkttäterin kann sich auf die Feministin > Jaqueline Berenstein-Wavre berufen, die zusammen mit ihrem Mann den eidgenös­sischen Gleichstel­lungs­artikel entworfen hat. Die Politikerin plädierte dafür, dass sich jeder Mensch, unab­hängig von Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe, selbst realisieren könne. Er müsse nicht mit einem Programm, nicht mit einer Vorstellung, nicht mit einer Ideologie übereinstimmen, sondern mit sich. Darum hatte es für Jacqueline Berenstein nichts Beschämendes, wenn sich eine Frau entschied, für Kinder und Haushalt zu leben, vorausgesetzt, dass sie dabei respektiert wurde.

 

Graziella de Coulon wurde respektiert – zuhause und in der Welt. Nachdem sie verschiedene Patenschaften für Geflüchtete übernommen hatte, organisierte sie im Alter von 68 Jahren für die Eritreer, die von der Ausschaffung bedroht waren, die Besetzung von Gotteshäusern und die Etablierung des Kirchenasyls: „Und sehen Sie, es ging! Sie konnten alle bleiben.“

 

Inzwischen zitiert SRF auf seiner News-App die gestrige NZZ am Sonntag:

 

Das Beratungsunternehmen Wüest Partner geht von einem Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung um 148'000 Personen aus. Mit dieser Zunahme entspreche der Zuwachs in etwa der Einwohnerzahl von Bern. So stark wäre die Schweizer Bevölkerung in einem Jahr noch nie angestiegen.

 

Aus Rom meldet Italien-Korrespondent Peter Vögeli:

 

Die Migrationsproblematik ist enorm. Millionen junger Menschen aus den afrikanischen Ländern wollen ihre Heimat verlassen, um in Europa Arbeit zu finden.

 

Es wird auf der Welt offensichtlich nicht besser werden, solange nicht der Appell Gehör findet, den Papst Franziskus vor einigen Jahren formuliert hat: „Es muss ein Menschenrecht sein, dort leben zu können, wo man aufgewachsen ist.“ Für Abermillionen ist dieses Menschenrecht Schall und Rauch. Doch niemand legt Hand an, es umzusetzen. Das Eisen ist viel zu heiss.

 

Seit der Aufnahme für die „Plans Fixes“ hat sich Graziella de Coulon zur Co-Präsidentin von Solidarité sans frontières wählen lassen.

 

Frage der Organisation: Seit Jahren setzt du dich für die Grundrechte aller und gegen Ausgrenzung und Diskriminierung ein. Woher kommt deine Motivation?

 

Antwort von Graziella de Coulon: Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Für die Grundrechte aller Menschen zu kämpfen ist für mich seit jeher so selbstverständlich wie notwendig.

 

Es gibt Menschen, auf die der Satz von Theodor Vischer zutrifft: „Das Moralische versteht sich immer von selbst.“ Sie sind das Salz der Erde.

 

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