Christian Favre: Die Musik ist meine Sprache.

23. Januar 1955 –

 

Aufgenommen am 12. Dezember 2022 in Billens.

Christian Favre – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Zwei Seiten der selben Münze: (a) der Artikel über Christian Favre in der französischen Ausgabe von Wikipedia und (b) der Film mit Christian Favre auf der Plattform der „Plans Fixes“. Das Internet-Lexikon dokumentiert eine mittlere Künstlerkarriere, die den Pianisten mit den mehr oder minder klangvollen Namen der Branche in Verbindung gebracht hat, und der Film fängt eine Persönlichkeit ein, die so lebendig von der Musik und ihrer Ausübung spricht, dass die Aufnahme den Charakter einer Master Class annimmt. <

 

Es ist bekannt, dass Goethe in der Maske des „Narren" und des „Schalks“ (beide Umschreibungen bezeichnen Mephisto) häufig zutreffende, aber „allgemein verpönte Wahrheiten“ ausspricht. An einer Stelle des zweiten Teils von „Faust“, die davon handelt, wie der Staat zu Reichtum kommen könnte, verrät der Teufel, wie die verborgenen Schätze aus dem Boden zu holen sind:

 

Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.

Es liegt schon da, doch um es zu erlangen

Das ist die Kunst, wer weiss es anzufangen?

 

Das schwere Leichte. Wer mit Geduld und Mühe den steilen und dornigen Weg bis zur Meisterschaft erstiegen hat, wird am Ende gewahr, dass die letzte Vollkommenheit von einem unscheinbaren, banalen Punkt abhängt wie der kandierten Kirsche auf der Schwarzwälder Torte oder dem zermahlenen Pfeffer auf den Erdbeerhälften.

 

So hat jeder, der Bedeutendes hervorbrachte, erfahren, auf wie wenig es – nach Bewältigung aller Etappen – am Ende ankam:

 

Georg Christoph Lichtenberg:

Es klingt lächerlich, aber es ist wahr: wenn man etwas Gutes schreiben will, so muss man eine gute Feder haben, hauptsächlich eine, die, ohne dass man viel drückt, leichtweg schreibt.

 

Friedrich Schiller:

Eine Luft, die für Schiller wohltätig war, wirkte auf mich [Goethe] wie Gift. Ich besuchte ihn eines Tages, und da ich ihn nicht zu Hause fand und seine Frau mir sagte, dass er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir dieses und jenes zu notieren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, so dass ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wusste anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden, mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, dass aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch stammte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, dass sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau hereingetreten, die mir sagte, dass die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schiller wohl tue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.

 

Roland Donzé:

Vom ehemaligen Jesuiten Tamborini übernahm Donzé die Technik, während des Unterrichtens den Geist noch mit einer zweiten Aufgabe zu beschäftigen. So besprach er mit der Klasse einen Text und löste gleichzeitig im Innern ein logisches Problem. Mit diesem Dreh, den er anfänglich sogar während der Seminare an der Universität praktizierte, blieb ihm jede Anwandlung von Lampenfieber erspart.

 

Sandor Veress:

Die nachhaltigsten Einblicke ins Reich der Musik gewann Donzé durch seinen Freund Sándor Veress, Schüler Bartóks (Klavier) und Kodálys (Komposition), der seit 1949 in Bern lebte („Erinnerungen an Paul Klee“ für zwei Klaviere und Sinfonieorchester 1952). Einmal lud ihn Veress zur Abschlussprüfung einer Gesangsstudentin ein: „Ich will dir zeigen, wie’s läuft.“ Die junge Frau hatte Talent. Doch traf sie den Spitzenton ihres Probestücks nicht. Auch bei der Wiederholung nicht. Veress trat neben die Sängerin auf die Bühne: „Passen Sie auf. Es ist ganz leicht, den Ton zu singen. Sie müssen nur im Moment, wo Sie ihn ansteuern, den rechten Fuss ein wenig nach aussen kehren, sehen Sie, so!“ Veress liess sie die Arie noch einmal singen, die Kandidatin konzentrierte sich auf die Fussspitze und brachte die hohe Note heraus. Der „Trick“ indes lag nicht, wie Donzé vermutete (und vielleicht Veress auch), in der Ablenkung der Aufmerksamkeit, sondern in der Korrektur der Beckenhaltung, die, wie die Orthopädie vor kurzem nachgewiesen hat, entscheidend ist für die Tonleistung im Kunstgesang.  

 

Dem Leichten nun, das in Wirklichkeit schwer ist, begegnete Christian Favre zum ersten Mal, als er nach dem Grundstudium in Lausanne für die „virtuosité“ (= Konzertreife, heute Master) ans Konservatorium von Genf wechselte. „Ich kam gar nicht zum Spielen“, erzählt er. Seit er die Tasten kannte, hatte er sich stets an der Bewegung der Klänge erlabt. Aber bei Louis Hiltbrandt durfte er nur einen einzigen Ton anschlagen. Immer denselben. Stunden­lang, wochenlang. Bis ihm aufging, was ihm der Lehrer zeigen wollte: „Die Produktion des Tons passiert nicht mit dem Finger, sondern mit dem ganzen Körper!“ Diese Lektion verhalf Christian Favre beim Schlussexamen zum grossen Preis der Jury.

 

Ein anderes Mal riet ihm Nikita Magaloff, er solle „nur über die Tasten streichen“. Christian Favre stutzte. Dann begann er zu üben. Mehrere Jahre lang. Sein Spiel wurde leichter, poetischer. Und vor allem: Es entwickelte die Qualität des Legatos, das Höchste fürs Spiel eines Pianisten. „Es liegt schon da, doch um es zu erlangen – Das ist die Kunst!“

 

In der Aufnahme für die „Plans Fixes“ schlägt Christian Favre nun zwei Akkorde an: „Was hören Sie?“ Der Interviewer Charles Sigel schweigt verlegen. Der Pianist aber ruft: „Das sind Hörner! Beethoven hat immer an den Klang von Instrumenten gedacht. Ihn muss man herausbringen!“ „Das ist die Kunst, wer weiss es anzufangen?“

 

Während des Films von ungewöhnlicher Länge streut Christian Favre immer wieder solche Einsichten ein, die sich im Lauf seines Künstlerlebens herauskristallisierten. Eine der schönsten taucht auf, als er vom Spiel in Kammmermusikformationen erzählt: „Was ich nicht mag, sind Kollegen, die anfangen, über das Konzept zu diskutieren: Wie man diese Stelle anpacken solle und wie jene.“ Da erfährt Favre jedesmal die Wirklichkeit des „Faust“-Zitats:

 

Denn eben wo Begriffe fehlen,

Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

Mit Worten lässt sich trefflich streiten,

Mit Worten ein System bereiten,

An Worte lässt sich trefflich glauben ...

 

„Mit Diskutieren gerät man nur auseinander“, erklärt der erfahrene Pianist. Er hat recht. „Diskutieren“ bedeutet, wörtlich übersetzt, „auseinanderschüt­teln“. Jetzt ruft er in die Verwirrung hinein: „Und wenn wir damit anfangen würden zu spielen, was der Komponist geschrieben hat?“ Es wird still. Ein Stein fällt den Beteiligten von Herzen. Und wieder zeigt sich: „Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.“

 

167 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0