Dr. Edouard Jequier-Doge: Professor der medizinischen Poliklinik 1950–1977.

12. Februar 1907 – 24. Dezember 1988.

 

Aufgenommen am 6. Mai 1986 in Lausanne.

Dr Edouard Jequier-Doge – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der Interviewer Bertil Galland vergisst zu reden und ... dazwischenzureden. Daran zeigt sich die ausserordentliche Qualität des 79-jährigen Medizinprofessors, der vor seinem Kamin im Wohnzimmer sitzt. In den anderen „Plans Fixes“-Filmen können die Befragten weder den Gedanken zuendeführen noch beim Thema bleiben; durch Zwischen­bemerkungen werden sie laufend unterbrochen und abgedrängt. Aber Dr. med. Edouard Jequier-Doge, emeritierter Professor der medizinischen Poliklinik am Univer­sitäts­spital Lausanne, kann souverän zur Darstellung bringen, wie in seinem Fach Mensch und Medizin ineinander wirken, und Bertil Galland lässt ihm Platz. Eine grosse Stunde. <

 

An der Universität Lausanne haben die „Section d’histoire et esthétique du cinéma“ sowie das „Centre de recherches sur les lettres romandes“ angefangen, sich den „Plans Fixes“ zuzuwenden und deren Reichtum zu erforschen. Für die Literaturwissenschaft werden die Dichtergestalten Gewinn abwerfen, für die Filmwissenschaft die Cineasten und Schauspieler. Und auch das Material selbst: Das Sprachgebaren der Gefilmten, die Schwarzweiss-Ästhetik der unbewegten Kamera.

 

Als Untersuchungsgegenstand für die Bachelor-Thesis der Philologen empfehlen sich ebenfalls die Kurzzusammenfassungen, mit denen die Plattform jeweils den Inhalt, das Klima und die Eigenart der Begegnung mit der abgefilmten Persönlichkeit wiedergibt. Die Texte sind zwar nicht unterzeichnet, doch kann man davon ausgehen, dass ihre Formulierung zum Aufgabenbereich des Interviewers gehört.

 

Bertil Galland hat sich als Mann der ersten Stunde bei den „Plans Fixes“, als Journalist und Verleger in besonderem Mass für die Resümees qualifiziert, und durch Mikroanalyse werden die Thesaner in den anonymen Gebrauchs­texten rasch die Spuren seiner Handschrift festmachen. Bei Edouard Jequier-Doge beginnt Bertil Galland mit der Hauptinformation:

 

Dieser Film stellt einen Arzt vor, der einer der grössten Pädagogen an der Universität Lausanne war.

 

Die Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen. Durch fast 80 Semester hindurch haben die Medizinstudenten den Ruf des genialen Lehrers verbreitet, und der Lehrer erfuhr, dass das pädagogische Verhältnis, wie Martin Buber sagt, „zwiefältig“ ist, das heisst „ein Geschehen zwischen dir und mir“. „Die Studenten haben mich zum Professor gemacht“, erklärt darum Edouard Jequier-Doge im Film.

 

Als eines schönen Tages „le patron“ aus gesundheitlichen Gründen die Vorlesung nicht halten konnte, musste der junge Assistent einspringen. „Mein Chef war zwar ein hervorragender Mediziner, aber ein schlechter Lehrer. Ich wollte es besser machen. Darum brachte ich, was die Studenten interessierte, und nach kurzem bemerkte ich, dass sie die Zeitung weglegten und mir zuhörten. Solange ich ihre Augen auf mich gerichtet sah, wusste ich, dass ich sie erreichte.“

 

Was sich damals ereignet hat, wiederholt sich jetzt für den Betrachter des „Plans Fixes“-Porträts: Nach zwei Minuten folgt er fasziniert den Darlegungen des grossen Lehrers. Bald erweist er sich ebenfalls als grosser Erzähler, grosser Beschreiber, grosser Erklärer und grosser Darsteller von Zusammenhängen. Nach dem Sachaspekt (der „Ich-Es-Ebene“, wie es bei der themenzentrierten Interaktion TZI heisst) beginnt bald auch der Beziehungs­aspekt (die „Ich-Du-Ebene“) zu wirken. Die Faszination, die er an der Sache geweckt hat, überträgt sich auf den, der sie so packend vermitteln konnte. Darin liegt der Schauspieleraspekt, ohne den kein Lehrer, Arzt, Pfarrer, Psychologe oder Politiker seinen Beruf ausüben kann. Er wirkt eben auch durch seine Persönlichkeit.

 

Sinnvoll darum, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. Kurt Nieder­wimmer, der grosse Lehrer für Neues Testament an der Universität Wien von 1973 bis 1997 riet seinen Studenten, sich analysieren zu lassen, um herauszufinden, warum sie eigentlich Pfarrer werden wollten.

 

Edouard Jequier-Doge wich seinerseits der Selbsterkenntnis nicht aus. Zweimal legte er sich auf die Couch. Er erkannte seine Neurose und fasste den Mut, „den Abszess aufzuschneiden“, wie er sagt. „Wer sich selber kennt, versteht auch die Patienten besser.“ Seine Einsicht strahlte aus; viele Assistenzärzte in der medizinischen Poliklinik folgten dem Beispiel des Chefs: Sie bekamen ja mit, wie nutzbar der ganzheitliche Ansatz für Diagnose und Therapie ausfiel.

 

Sein Interesse an der Psychoanalyse öffnete ihn für die psychosomatische Medizin.

 

„Von den Studenten zum Professor gemacht“, erkannte Edouard Jequier-Doge, dass die Beschäftigung mit konkreten Fällen das beste Lehrergebnis brachte. Also lud er seine Patienten in die Vorlesung ein. Den Hörern gab er Anweisungen: „Achten Sie auf den Gang! Achten Sie auf den Ausdruck des Gesichts! Achten Sie auf die Augenbewegungen!“ Den Patienten sagte er: „Gehen Sie nach hinten! Zeigen Sie ihre Narben!“

 

Seine überragende Intelligenz und die Lust an der Herausforderung inspirierten ihn zu einem Umgang mit den Kranken, der sich radikal von den Moden abhob und auf der Aufmerksamkeit für die Person beruhte.

 

Für die ärztliche Weiterbildung stellte er einen ganztägigen Anlass unter das Thema „Behandlungsfehler“. Daraus entstand auch eine Schrift. Obwohl das Wort „Fehlerkultur“ erst ein halbes Jahrhundert später aufkam und sich die Götter in Weiss noch lange Zeit für unfehlbar hielten, war Edouard Jequier-Doge vom Motto zu Freuds „Traumdeutung“ überzeugt: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“

 

Er brachte verschiedene Fälle von Kunstfehlern zur Diskussion: „Was können wir daraus lernen?“ Häufig hatte ein übersehenes Detail die Therapie auf Abwege gebracht. Bedeutende Risikofaktoren waren Enge des Gesichtsfelds, Routine, blindes Vertrauen in die Apparate, Vorurteile. Edouard Jequier-Doge liess die Veranstaltung vom Zürcher Mathematiker und Philosophieprofessor Ferdinand Gonseth begleiten, der am Abend in einem magistralen Vortrag die Schlüsse zog. Dann bekannte Edouard Jequier-Doge, dass alle untersuchten Fälle aus seiner eigenen Praxis hergekommen waren.

 

1954 erregte er unter seinen Kollegen Aufsehen, als er seine eigenen Fehldiagnosen analysierte.

 

Nachträglich aber verurteilten Fachwelt und Fachgremien den Anlass: Die Thematik schade dem Ansehen des Berufs …

 

Bertil Galland unterbricht Edouard Jequier-Doge nicht, als er er ausholt, um die Faszination des Fachgebiets mit Fallgeschichten zu erläutern. Dabei tritt zutage, dass seine Auffassung der ärztlichen Kunst bis aufs Jota der Darstellung durch den anonymen Kollegen entspricht, der im Brockhaus von 1837 ff. den Artikel „Arzt“ verfasst hat:

 

Wer da hoffen will, als Arzt seinen Platz ganz auszufüllen, muss Genie haben, d.h. ausgezeichneten Verstand im Verein mit einer tätigen Einbildungskraft, zum Selbstdenken befähigt sein, Beobachtungsgabe, Geistesgegenwart und hauptsächlich angeborene Anlage zum Arzte besitzen, ohne die er nie, selbst bei der höchsten wissenschaftlichen Ausbildung, den sogenannten praktischen Blick erlangen wird, der in vielen Krankheitsfällen von so grosser Wichtigkeit ist. Er muss sich eines guten Gedächtnisses erfreuen, dabei unermüdlich fleissig und tätig, körperlich gesund und wohlgebildet sein, ersteres, um die Strapazen seines Berufes ertragen zu können, letzteres, um keinen übeln Eindruck zu machen; ferner religiös, teilnehmend, nachsichtig und geduldig, mässig und enthaltsam, uneigennützig und verschwiegen sein, um das Vertrauen der Kranken zu gewinnen, das ihm zur glücklichen Behandlung derselben wesentlich notwendig ist. Hat er alle diese Eigenschaften, so wird er auch nie Ursache haben, mit der Wahl seines Berufs unzufrieden zu sein, denn das Studium der Heilkunde selbst ist zu reichhaltig und anziehend und die Aufgabe, der leidenden Menschheit Hülfe zu bringen, zu schön und zu lohnend, als dass er dadurch nicht für manche schmerzliche Erfahrung und ein beschwerdevolles Leben Entschädigung finden sollte.

 

Bertil Gallands vorzügliche Zusammenfassung der Begegnung mit Dr. med. Edouard Jequier-Doge, Professor der medizinischen Poliklinik am Universitätsspital Lausanne, mündet in den Satz:

 

Diese grosse Filmstunde, in der der Professor und Schauspieler nicht davor zurückschreckt, zu verblüffen, ist eine beispielhafte Lektion in medizinischer Kunst.

 

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