Alice Rivaz: Schriftstellerin.

14. August 1901 – 27. Februar 1998.

 

Aufgenommen am 15. Juli 1986 in Genf.

Alice Rivaz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Das Gespräch mit der Schriftstellerin Alice Rivaz umfasst drei Bereiche: Musik, Schreiben, Liebe. Dabei treten in den „Plans Fixes“ drei kommunikative Tätigkeiten auf: Schildern (über die Musik), Berichten (über das Schreiben) und Lachen (über die Liebe). <

 

Am Ende der Aufnahme mit Alice Rivaz steuert Mousse Boulanger auf ein Resümee hin: „Was war das Schönste in Ihrem Leben?“ „Die Musik.“ „Nicht das Schreiben?“ „Nein, das war wichtig. Aber nicht das Schönste.“ „Und die Liebe?“ „Die ist eine Krankheit. Als sie überstanden war, habe ich aufgeatmet: Uff! Wie schön ist das Leben ohne Liebe, und wie leicht! Ich kenne viele Frauen, die dasselbe sagen. Wir könnten uns zu einem Chor aufstellen: Uff! Nie wieder ein Mann! Nie wieder einem Mann zulieb Enttäuschungen runterschlucken!“ Alice Rivaz kann vor Lachen fast nicht mehr weiterreden.

 

Das Lachen, das die Ausführungen zu Familie, Leben und Liebe begleitet, ist das Lachen der Erleichterung. Es löst, gemäss Eric Berne, jenen Vorsatz ein, der Alice Rivaz durchhalten liess: „Eines Tages werde ich darüber lachen können!“ Und jetzt ist die Stunde da.

 

Wie eine Schnecke kam er zu einem Feldbrunnen geschlichen, wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunk laben: damit er aber die Steine im Niedersitzen nicht beschädigte, legte er sie bedächtig neben sich auf den Rand des Brunnens. Darauf setzte er sich nieder und wollte sich zum Trinken bücken; da versah er’s, stiess ein klein wenig an, und beide Steine plumpsten hinab. Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freude auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Tränen in den Augen, dass er ihn auf eine so gute Art und ohne dass er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte. „So glücklich wie ich“, rief er aus, „gibt es keinen Menschen unter der Sonne.“
(Brüder Grimm: Hans im Glück)

 

Die Steine, die Alice Rivaz bis ins Alter mit sich herumgetragen hat, sind ihr vom Elternhaus auferlegt worden. Sie kamen von der glaubensernsten Gross­mutter. Ihr protestantisches Ethos verlangte einen frommen Wandel vor Gott, dem Allwissenden, und seiner Gemeinde. Auch die Eltern strebten nach Vorbildlichkeit. Die Mutter in gesellschaftlicher Hinsicht (die Familie sollte gut und unbescholten dastehen), der Vater in politischer (er hatte den Beruf des Primarlehrers aufgegeben, um die Kräfte ganz für die sozialistische Revolution einsetzen zu können).

 

Durch seinen vorbildlichen Einsatz schaffte es der Vater ins „Historische Lexikon der Schweiz“: „Paul Golay gilt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Waadtländer Sozialismus.“ Und die Tochter brachte es unter dem Schriftstellernamen Alice Rivaz in die Brockhaus-Enzyklopädie:

 

Sie schilderte in ihren psychologischen Romanen und Novellen mit grossem Einfühlungsvermögen das Leben und die Befindlichkeit vorwiegend weiblicher Figuren, die verpasste Möglichkeiten im Leben hinterfragen und auf der Suche nach einer Liebe sind, die nicht am Egoismus der Männer scheitert. Ihr Roman „La paix des ruches“ (1947; deutsch „Der Bienenfriede“), der tagebuchartig die Gedanken einer Frau, die sich scheiden lassen will, festhält, erregte seinerzeit grosses Aufsehen. Zum ersten Mal in der französischsprachigen Literatur der Schweiz wurde das Thema der Emanzipation der Frau aufgegriffen, mit dem sich Rivaz auch theoretisch sowie in ihrem Tagebuch „Traces de vie“ (1983) auseinandersetzte.

 

Dabei hatte Alice Rivaz eigentlich als Pianistin gross herauskommen wollen. Farbig schildert sie, wie sie als vierjähriges Mädchen vom Klang des Klaviers angelockt wurde. Gleich träumte sie davon, das Instrument zu besitzen und zu beherrschen. Doch vorerst musste sie noch – wie im Märchen – sieben Jahre lang warten. Es hiess, ihre Hände seien zu klein (sie blieben es auch und führten am Ende zum Verzicht auf eine solistische Karriere), dann erklärten die Eltern, das Klavier sei zu teuer. Aus diesem Grund wurde Alice an Weihnachten mit einer Geige beschenkt. Die Grossmutter hatte sich den Betrag abgespart. Alice Rivaz spielt die Szene vor. „Ich habe den andern immer Freude machen wollen. Also habe ich Begeisterung geheuchelt: ‚O wie lieb! Die schöne Geige!‘“

 

Heucheln, lügen, vorspielen blieb bis zum Schluss Alice Rivaz' Verhalten gegenüber der Familie. Lachend spricht es die 84-Jährige aus: „Die Menschen, die man liebt, will man nicht enttäuschen. Also lüge ich. Bis zu ihrem Tod haben die Eltern nie erfahren, wer ich eigentlich bin und wie ich denke. Es hätte sie zu sehr enttäuscht. Sie hielten mich für ein liebes, kleines Mädchen, und ich beliess sie in ihrem Glauben.“

 

Auch den Schritt in die Literatur verheimlichte Alice Rivaz, als sie mit dreissig zu schreiben begann. Sie traute ihren Fähigkeiten nicht. Sie wollte sich nicht wichtig machen. Darum landete das Manuskript – wie im Märchen – für sieben Jahre in der Versenkung. Doch während dieser Zeit wechselte Alice Rivaz ins Sekretariat der Guilde du livre, setzte sich mit Beiträgen für die Mitgliederzeitung beim Verleger > Albert Mermoud in Achtung und lernte den Schriftsteller Charles-Ferdinand Ramuz kennen.

 

Ihm, dem Grossen, wagte sie es am Ende, die Blätter vorzulegen: „Ich wollte nicht erfahren, ob man das Manuskript veröffentlichen könne. Ich wollte nur wissen, ob er sich vorstellen könne, dass ich imstande sei, eines Tages etwas Gültiges hervorzubringen, oder ob ich mir das Schreiben aus dem Kopf schlagen müsse.“

 

Ramuz’ Antwort kam durch den Verleger: „Wir werden Ihren Roman drucken!“ Der Vater hielt das für einen Riesenfehler. Das Manuskript habe keine literarische Qualität. Es entspreche bloss einem ersten Entwurf. Alice solle „Nuages dans la main“ (Wolken in der Hand) überarbeiten. Die Mutter war todunglücklich: Solch widerwärtige Inhalte passten nicht zu ihrem lieben Kind.

 

„Wolken in der Hand“: Ein Buch über die Schwierigkeit, sich in einer komplexen Wirklichkeit zurechtzufinden. Momentbilder zwischen Wunschvorstellung, Realität und Traum, die insbesondere in ihrer nüchternen Darstellung der Beziehung zwischen Mann und Frau auch fünfzig [heute: neunzig] Jahre nach ihrer Entstehung noch nichts von ihrer Brisanz und Dichte eingebüsst haben.

(Orell Füssli)

 

Um das Leid der Eltern zu mindern, entschloss sich Alice zu einem Pseudonym. Sie wählte mit Rivaz einen Ortsnamen am Genfersee, der mit den Buchstaben R und Z an Ramuz erinnerte. Damit fiel kein Schatten mehr auf den Familiennamen Golay. „Ich meinem sah Vater die Erleichterung augenblicklich an.“ Der Mutter aber gelang es bis zum Ende nicht, den Brocken zu schlucken.

 

Aus Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Eltern sparte Alice im Tagebuch ebenfalls alles Heikle aus: „Falls ich vor den Eltern gestorben wäre und sie dann in meiner Hinterlassenschaft entdeckt hätten, wer ich wirklich bin – es hätte sie umgebracht.“

 

Jetzt aber steht die 84-Jährige am Ende der Geschichte. Der Lebens­bericht vor der Kamera wird von einem Lachen durchzogen. Es ist das Lachen der Erleichterung.

 

Relling: Herrgott, ich bin halt so etwas wie ein Doktor, zu meiner Schande sei’s gesagt; und da muss ich mich wohl der armen Kranken annehmen, die hier mit im Hause wohnen.

Gregers: So! Ist Hjalmar auch krank?

Relling: Alle Menschen sind beinahe krank; leider.

Gregers: Und welche Kur wenden Sie für Hjalmar an?

Relling: Meine gewöhnliche. Ich sorge dafür, dass in ihm das Flämmchen der Lebenslüge nicht erlischt.

Gregers: Die Lebens – lüge? Habe ich recht gehört –?

Relling: Jawohl, ich sagte: die Lebenslüge. Denn sehen Sie, die Lebenslüge, die ist das stimulierende Prinzip. Die Methode ist probat. Ich habe sie bei Molvik angewandt. Den habe ich „dämonisch“ genannt.

Gregers: Ist er denn nicht dämonisch?

Relling: Was, zum Donnerwetter, heisst denn dämonisch? Das ist doch bloss ein Unsinn, den ich erfunden habe, um den Mann am Leben zu erhalten. Hätt' ich das nicht getan, so wäre das arme, gute Schwein schon vor manchem lieben Jahr an Selbstverachtung und Verzweiflung zugrundegegangen. Und nun erst der alte Leutnant!

Gregers: Ja, der unglückliche alte Leutnant; er hat viele von den Idealen seiner Jugend verlieren müssen.

Relling: Gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort: Ideale. Wir haben ja das gute einheimische Wort: Lügen.

Gregers: Meinen Sie, die beiden Dinge sind miteinander verwandt?

Relling: Ja, ungefähr wie Typhus und Faulfieber.

Gregers: Herr Doktor, ich ruhe nicht, bis ich Hjalmar Ihren Klauen entrissen habe.

Relling: Das wäre für ihn das grösste Unglück. Nehmen Sie einem Durch­schnittsmenschen seine Lebenslüge, so bringen Sie ihn gleich­zeitig um sein Glück.

(Henrik Ibsen: Die Wildente)

 

Lerne: Um die Wahrheit zu verbergen, lügt der Mensch. Die Poesie hingegen sagt wahr, indem sie lügt. Da liegt der Unterschied. Nicht wahr, Frau Rivaz?

 

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