Norbert Moret: Komponist.

20. November 1921 – 17. November 1998.

 

Aufgenommen am 8. November 1988 in Freiburg i.Ü.

Norbert Moret – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Norbert Moret musste jahrzehntelang unten durch. Die Aufnahme zeigt das an drei Punkten: (1) Der Raum ist eng. (2) Am Rand der Fauteuils stehen die Polster auf. (3) Am Wandschrank ist ein Gummizapfen auf Hüfthöhe eingeschraubt, um den Schwung der Zimmertüre abzufedern. Doch wenn Norbert Moret arbeitet, sieht er das alles nicht. Er ist im Paradies. <

 

Der Anfang des Films fehlt. Er wurde vermutlich entfernt, nachdem sich gezeigt hatte, dass das Gespräch zu lang geraten war. Etwas aus der Mitte zu nehmen, hätte gegen das Konzept der „Plans Fixes“ verstossen („weder Wiederholungen noch Schnitte“). Nun setzt die Aufnahme unvermittelt ein, ist aber aus einem Guss. Daran zeigt sich Norbert Morets besondere Kraft.

 

Bei seinen Ausführungen ist kein Wort zu viel und keines zu wenig. Und könnte sich Bertil Galland mit seinen Interventionen zurückhalten, träte noch eindrück­licher hervor, in welch grossen Bögen Norbert Moret denkt. Er kann, besser als andere, einen ausgedehnten Diskurs in der Zeit organisieren. Er ist eben Komponist. Das weiss er seit dem 17. Altersjahr. Damals hörte er zum ersten Mal Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 und verstand, welchen Beruf er ausüben müsse.

 

In die Wiege war ihm das Komponieren nicht gelegt worden. Und doch … bekam er, der Bauernsohn, mit neun Jahren ein Klavier. Und Klavierstunden. Obwohl das am Ort als Hochmut der Familie ausgelegt wurde. Einzelne Nachbarn erwogen, an der Gemeindeversammlung eine Klaviersteuer zu beantragen: Fünf Franken im Jahr.

 

Wie > Jean-Pierre Badoux, der spätere Präsident der ETH Lausanne und ebenfalls Waadtländer Bauernsohn, war Norbert Moret als Kind schwächlich und so oft krank, dass die Älteren den Gedanken aufgeben mussten, ihn zum Nachfolger auf dem Hof zu machen. „Er soll studieren“, entschied die Grossmutter. Und so kam er auf Rat des Dorfgeistlichen nach Romont an die Sekundarschule, der auch ein kleines Priesterseminar angegliedert war. Dort qualifizierten ihn die Leistungen fürs Gymnasium, das berühmte Collège Saint-Michel in Freiburg i. Ü.

 

In den Erinnerungen, die Norbert Moret der Kamera vorträgt, kommt die Gemeinschaft nicht vor. Vielmehr erscheint er als stilles Kind, das seine eigenen Wege geht. Gleich hinter dem Haus beginnt die weite Landschaft des Broyebezirks. Links vom Wald begrenzt, schweift der Blick bis zum Horizont über unabsehbare Weiden. Wenn man sich durch sie bewegt, kommt man ins Träumen. Zum Beispiel von Don Quichote.

 

Den gewöhnlichen Menschen gilt der Ritter von der traurigen Gestalt als Verrückter. Norbert Moret aber begreift ihn als Verwandten, der es vermag, eine eigene Welt zu schaffen. Was der Träumer sieht, ist für ihn Realität. Die wirkliche Welt aber ist ausgelöscht, zählt nicht. „So geht es mir beim Komponieren auch“, erzählt Norbert Moret. „Ich vergesse, in welcher Zeit ich lebe und welchen Tag wir haben. Ich weiss auch nicht recht, was ich tue. Ich lasse mich einfach führen, und vor meinen Augen baut sich das Werk von selber auf.“ Diesen Flow kennt jeder, der Eingebungen hat.

 

Goethe zu Eckermann:

 

Ihr Traum ist sehr artig. Man sieht, dass die Musen Sie auch im Schlaf besuchen, und zwar mit besonderer Gunst; denn Sie werden gestehen, dass es Ihnen im wachen Zustande schwer werden würde, etwas so Eigentümliches und Hübsches zu erfinden.

 

Oft spazierte Norbert Moret vom Haus weg ins Freie. Bei Nebel öffnete er den Mund, um den grauen Hauch in sich aufzunehmen, der die Umrisse zum Verschwinden bringt. „Der Traum ist die Quelle meiner Musik“, erklärt er. Doch wenn er als Junge die Dächer plötzlich nicht mehr sah, bekam er Angst und kehrte um. Beim Anblick des vertrauten Zauns blieb er stehen und hielt sich am Pfosten fest.

 

Später, als Gymnasiast, wanderte er durch die Welt der griechischen Tragiker. „Ich habe sozusagen alle Dramen gelesen, die in der Übersetzung von André Bonnard erschienen, mitsamt den Kommentaren.“ Daneben kam der Jüngling jeden Tag in die Cathédrale Saint-François. Während draussen die Abenddämmerung hereinbrach, durchschweifte er am Orgelpult in langen Improvisationen die Welt der Klänge.

 

Dann stellte sich die Frage der Ausbildung. Der Zwanzigjährige schrieb an die Vorbilder Arthur Honegger („die etablierte Avantgarde“), Olivier Messiaen („die kommende Avantgarde“) und Wilhelm Furtwängler. Alle waren bereit, ihn als Schüler zu empfangen. Zum Schluss studierte er noch serielle Musik bei René Leibowitz. Und als er fertig war, war er – künstlerisch – am Ende. Zwanzig Jahre dauerte die Dürre.

 

Vom Komponieren konnte er nicht leben. Das hatte schon > Constantin Regamey erfahren. Als der Ungarn-Schweizer nach dem Zweiten Weltkrieg in das Land der Väter gekommen war, hatte er als erstes Ernest Ansermet aufgesucht. Doch der hatte ihm abgewunken: „Wenn Sie nicht verhungern wollen, machen Sie alles ausser Musik.“ Demzufolge brachte sich Constantin Regamey nicht als Komponist, sondern als Lektor für allgemeine Linguistik, slawische und orientalische Sprachen an den Universitäten Freiburg i. Ü. und Lausanne durch.

 

Norbert Moret seinerseits wurde Musiklehrer an der Sekundarschule. Das Komponieren aber lag brach. Es ging ihm wie Goethe. Als der Dichter in Weimar Minister geworden und in den Geheimratsrang aufgestiegen war, stellte er fest, dass seine poetische Ader versiegt war, und zu den Besuchern sagte er, er denke nicht, dass er jemals das Schreiben wieder aufnehmen werde. Doch dann kam ihm die belebende Freundschaft mit Schiller zuhilfe.

 

Norbert Moret zog sich am eigenen Haupt aus dem Sumpf. Er rief sich zu: „Vergiss die Musik, die du gelernt hast, und schreib die Musik, die du hörst!“ So begann er mit 51 Jahren, ein eigenes Werk zu schaffen. Als er Heinrich Sutermeister eine Probe zur Begutachtung vorlegte, stellte der fest: „Ich habe Ihnen nichts zu raten. Sie sind ein fertiger Komponist. Ich werde dafür sorgen, dass Sie in Amriswil aufgeführt werden.“

 

„Amriswil“ bedeutete das 75. Fest des Schweizer Tonkünstlervereins. Da kam unter Leitung von > André Charlet „Germes en éveil“ zur Uraufführung, ein kammermusikalisches Werk für Sopran, Flöte, Chor und zwei Schlagzeuger. Von da an war Norbert Moret eine Grösse, zuerst in der deutschen Schweiz und im süddeutschen Raum, und neun Jahre später, mit der Uraufführung von „Tragiques“ in Genf 1983, auch in der Westschweiz.

 

Die Uraufführungen seiner „Hymnes de silence“ durch Paul Sacher in Basel, des Violinkonzerts durch Anne-Sophie Mutter und des Cellokonzerts durch Mstislaw Rostropowitsch machten den Sechzigjährigen international bekannt. Und mit der Unterstützung von Paul Sacher und Rostropowitsch konnte er sich fortan bis zu seinem Tod ganz dem Komponieren widmen.

 

1983 erhielt er Kompositionspreis des Schweizer Tonkünstlervereins und den Europapreis für Musik, 1989 den Ehrendoktor der Universität Freiburg und 1990, mit 69 Jahren, den Preis der Jubiläumsstiftung der Schweizerischen Bankgesellschaft.

 

Doch mit den Auszeichnungen hat es eine Nase. Nicolás Gómez Dávila stellte fest:

 

Die Zuerkennung von Preisen an mittelmässige Künstler ist lächerlich, an grosse Künstler unverschämt.

 

So ist es.

 

131 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0