Walter Mafli: Das Grün des hundertjährigen Malers.

10. Mai 1915 – 11. Dezember 2017.

 

Aufgenommen am 18. Dezember 2014 in La Conversion.

Walter Mafli – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Auf die meisten Filme der „Plans Fixes“ trifft Georg Christoph Lichtenbergs Aufforderung zu: „Wer zwei Paar Hosen hat, mache eines zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.“ Das heisst: Wer eine Stunde erübrigen kann, schiebe alles beiseite und schaue sich diesen Film an! Bei der Begegnung mit Walter Mafli wird der Zeitaufwand durch einen Menschen vollkommen eigener Prägung aufgewogen und belohnt. <

 

Wenn Lichtenberg sagte: „Man sollte eigentlich nur das ein Buch nennen, was etwas Neues enthält“, so liegt das Ungewöhnliche im Porträt von Walter Mafli bereits in der Tatsache, dass der alte Knabe zum Zeitpunkt der Aufnahme wohlgerüttelte 99 Jahre zählt und noch das gesegnete Alter von 102 ½ erreichen wird. Er trägt zwar einen Hörapparat und sagt, das Augenlicht habe in jüngster Zeit nachgelassen, darum müsse er jetzt auf das Malen an der Staffelei verzichten und stattdessen mit Kreide arbeiten („und auch da nur mit einer starken Spotlampe“), doch immer noch trägt ihn der Elan des Schaffens durchs Leben und verleiht ihm Jugendlichkeit.

 

Auf Mafli lässt sich übertragen, was Lichtenberg über den „Charakter einer mir bekannten Person“ festgehalten hat: „Lesen und Schreiben ist für ihn so nötig als Essen und Trinken, er hofft, es wird ihm nie an Büchern fehlen.“

 

Zur Einmaligkeit des hohen Alters gehört, dass der Abgefilmte bereits von einer anderen Seite auf das Leben blickt. Mit Gelassenheit nimmt er das Urteil entgegen, er sei „der Maler der Köche“ gewesen. In der Tat hat Frédy Girardet um 1970 zwei Maflis erworben und in seinem Restaurant fest aufgehängt. Weitere Dreisternechefs (wie zum Beispiel Philippe Rochat) taten es ihm nach. „Dass die Spitzenköche meine Bilder lieben, erstaunt mich nicht“, sagt der 99-Jährige. „Sie sind eben auch Künstler.“

 

Walter Mafli hat ebenfalls überstanden, dass man ihn als Maler des oberen Genferseebeckens („Maler der Lavaux“) etikettierte: „Diese Landschaft ist von einmaliger Schönheit. Ich bin ihr verfallen.“ Doch zwanzig Jahre lang bildete er sie nicht mehr ab. Mit dieser Weigerung wehrte er sich dagegen, als Landschaftsmaler abgestempelt zu sein. Später indes, als er dem hohen Alter zuzustreben begann, wurde ihm alles, was die Leute sagten, gleichgültig: „Sie haben ein Recht auf ihre Meinung.“

 

Faszinierender als das, was von aussen kommt, ist der Prozess, der dadurch entsteht, dass Farben zueinander treten. Da erlebt Walter Mafli gleichzeitig das Machenkönnen und das Geführtwerden; den Ausdruck von etwas subjektiv Wahrgenommenem und das Erlebnis von etwas objektiv Neuartigem.

 

An der Schwelle zum Hundertsten drückt sich der Maler mit schlichten, geraden, einfachen Worten aus. Man spürt: Es geht ihm nur um eins – die Ehrlichkeit. Sie liegt im Kern der Sache. Mit ihm gilt es sich zu beschäftigen. Alles andere ist Zeitverschwendung.

 

Aus diesem Grund hat ihn das Grün lange irritiert. „Sie haben einmal gesagt: ‚Ich hasse diese Farbe!‘ Dabei bedeutet sie doch Leben, Natur …“, stellt der Interviewer Pierre Jeanneret fest. Mafli nickt: „Ich kam mit dem Grün nicht zurande. Immer wurde es mir zu schön, zu gleissend. Jetzt lege ich Grau darauf. Zwar stimmt die Farbe weiterhin nicht, aber dafür das Bild.“ Der Hochbetagte ergänzt: „Sie sehen, ich bin noch nicht am Ende. Laufend mache ich neue Entdeckungen.“

 

So, wie er sich als Autodidakt der Malerei bemächtigt hat, hat er von innen her gelernt, das Leben zu meistern. Jahrzehnte bevor die Therapeutin > Rosette Poletti herausfand, dass hinter stockender seelischer Entwicklung verborgener Groll steckt, wodurch sie zum Buch „Lâcher prise : dire oui à la vie“ (Loslassen: Ja zum Leben sagen) animiert wurde, ist Walter Mafli darauf gekommen, Leben, Schicksal und Menschen von ihren grösseren Zusammenhängen her zu verstehen und sich durch Abgrenzung von allem Bedingten, Schicksalshaften und Zufälligen zu emanzipieren.

 

Als er zur Welt kam, war der Vater, ein 19-jähriger Bursche (und vermutlich österreichischer Soldat), schon verschwunden. Die Mutter (24) war taubstumm. Für die ersten vier Jahre kam der Kleine in die Obhut der Grossmutter, die sich bereits um 14 eigene Kinder kümmern musste. Mit fünf Jahren kam er bis zum Schulaustritt ins Waisenhaus. „Das tönt so schön“, sagt Walter Mafli. „Doch in Wirklichkeit nannte sich das Institut Erziehungsanstalt. Da wurden wir auf den Kopf geschlagen, bis die Nase blutete. Immer wieder hat man uns mit Nahrungsentzug bestraft. Demzufolge lernten wir lügen und stehlen.“

 

Gleichwohl kann Walter Mafli dem Thema Wiedergutmachung nichts abgewinnen: „Die Menschen handelten damals ihrer Zeit gemäss. Ich aber wurde durch alles, was mir zugestossen ist, zu dem, der ich heute bin.“ Er meint: Zum Künstler, der am Ende anfangen konnte, von seinen Bildern zu leben.

 

In der Abgrenzung lag das Geheimnis. Der Zögling der Erziehungsanstalt begann, sich im Estrich zu verstecken und dort Material zu bearbeiten: ein Stück Holz, ein Blatt Papier. Das Schaffen erlaubte ihm, den zerstörenden Kräften zu entkommen durch die Schöpfung eines leuchtenden Gegenreichs.

 

Selig ist, wer soweit kommt.

 

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