Rosette Poletti: Therapeutin – Für den Menschen sorgen.

21. Oktober 1938 –

 

Aufgenommen am 22. August 1996 in Lausanne.

Rosette Poletti – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Rosette Poletti: Die Therapeutin, die sich auslöscht. „Vor Ihre Person haben Sie einen Schleier gezogen“, stellt Roselyne Fayard, die Interviewerin, fest. Das sei halt ihre Art, entgegnet die Angesprochene. Von klein auf habe sie immer für die anderen gelebt. An sich selber finde sie nichts Besonderes. Deshalb bleibt die Therapeutin während der ganzen Aufnahme freundlich, aber ungreifbar. <

 

Ganz am Anfang fanden zwei Porträts in Farbe zu den „Plans Fixes“. Sie stammten aus dem Film „Le dernier printemps“ von Henri Brandt, gedreht 1976, ein Jahr vor Entstehung der Sammlung. Festgehalten waren > Paul Chaudet, der Bundespräsident der Jahre 1959 und 1962, und > Charles-Frédéric Fauquex, der Ständeratsspräsident des Jahres 1962. In Farbe sind ebenfalls die Filme über die beiden Art-Brut-Künstler > Gaston Teuscher (1978) und > Bertram Schoch (1979). Dazwischen und danach sind alle Porträts schwarz-weiss.

 

Fast zwanzig Jahre später kommt das Porträt von Rosette Poletti ins knappe halbe Dutzend der Farbfilme. Die Farbe jedoch bringt keinen Gewinn. Bei der ersten Rolle, wo der Ausschnitt die Hände miterfasst, erscheinen die Finger befremdlich weiss. Ob die Therapeutin an einer Pigmentanomalie namens Vitiligo leidet? Für die weiteren Takes rückt die Kamera nah ans Gesicht und holt Rosette Polettis Damenbart unvorteilhaft ins Bild.

 

Der Ausrutscher in die Farbe ist vermutlich dem Alleinsponsor der Aufnahme zu verdanken. Es handelt sich um die (inzwischen eingegangene) Lausanner Tageszeitung „Le Matin“. Für sie betreute Rosette Poletti die Lebensbera­tungs-Spalte. Ausbildung und Werdegang hatten sie dafür in hohem Mass qualifiziert.

 

Der Wunsch, Missionarin zu werden, hatte sie zum Theologiestudium an die Universität Genf geführt. Das Diplom, das sie dabei erwarb, reihte sich neben das Krankenschwesterdiplom und die „licence“ (heute Master) in Erziehungs­wissenschaften. Und schon zu jener Zeit war Rosette Poletti für die anderen tätig: Am Spital in der Betreuung von Sterbenden (patients en fin de vie), dann als missionarische Krankenschwester in den Bidonvilles von Marseille und Algerien. Dort begriff sie, dass es nicht statthaft sei, das christliche Bekenntnis Menschen anderen Glaubens aufzunötigen, und fortan wandte sie sich der weltlichen Lebenshilfe zu.

 

Mit 27 Jahren kam sie in die USA. Teilzeitlich betätigte sie sich als Pflegerin im Krankenhaus, daneben studierte sie an der Columbia Universität New York und erwarb einen Master in Pflegewissen­schaften und einen Doktor in Erziehungswissenschaften. Sie begann, an der Pace Universität New York zu lehren und mit Elisabeth Kübler-Ross zu forschen. Ihr grosses Thema war die Trauerarbeit.

 

Zurück in der Schweiz übernahm sie die Leitung der Pflegeausbildung an der École du Bon secours in Genf, darauf die Leitung der École Supérieure d'Enseignement Infirmier de la Croix-Rouge in Lausanne. Daneben arbeitete sie als Kolumnistin bei „Le Matin“, behandelte als Thera­peutin Hilfesuchende und schrieb 32 Bücher zu Psychologie und Lebensthemen in Zusammenarbeit mit Barbara Dobbs.

 

Barbara Dobbs kommt bei den „Plans Fixes“ nicht zur Erwähnung. Dabei hat sie einen ähnlichen Weg durchmessen wie Rosette Poletti: Sie machte in der Schweiz das Krankenschwesterdiplom, erwarb in den USA einen Master in Erziehungswissenschaften, bildete sich zur Hypnotherapeutin aus, machte einen Doktor in Naturheilkunde (Naturopathie) und übernahm schliesslich bei „Le Matin“ die Spalte Persönlichkeitsentwicklung (développement personnel).

 

Das Netz schweigt zur Beziehung der beiden Frauen. Auch Rosette Poletti. Bezeichnenderweise erfolgt die Aufnahme nicht bei ihr zuhause, sondern am Arbeitsort, der École Supérieure d'Enseignement Infirmier. Da hängt zwar ein Bild an der Wand, und es stecken Blumen in der Vase, doch das Dekor gehört zur Institution, nicht zur Person.

 

Als Therapeutin hilft Rosette Poletti den Menschen, sich selber zu finden. Sie ist für die anderen da und löscht sich hinter dem Berufsschleier aus. In der Lebensberatung, erklärt sie, äussere sie nie ihre eigene Meinung, sondern die der Wissenschaft; was, professionell gesehen, auch richtig ist. Der Rest geht halt die Betrachter des Films nichts an. Unwesentlich ist, was Rosette Poletti als Therapeutin zu sagen hat, ja nicht.

 

Zwei Punkte streicht sie heraus: 

  • Die meisten Zuschriften, die sie bei „Le Matin“ erreichten, zeigten, dass die Hilfesuchenden Mühe hätten, einen Sinn fürs Leben zu finden. 
  • Häufig komme die Trauerarbeit an einem Punkt ins Stocken. 

Rosette Poletti erkennt, dass hinter dem Stocken verborgener Groll steckt, und die Unmöglichkeit zu verzeihen. Demzufolge beginnt sie, sich mit dem Loslassen zu beschäftigen und schreibt, zusammen mit Barbara Dobbs, 1988 das Buch „Lâcher prise : dire oui à la vie“ (Loslassen: Ja zum Leben sagen).

 

Interessant, dass sich der Titel mit Viktor Frankls Klassiker aus dem Jahr 1946 deckt: „... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Seine Botschaft: Ohne Sinn geht der Mensch zugrund. Frankl setzt das Faktum ins Zentrum seiner psychiatrischen Praxis, aus ihr erwächst die Logotherapie (Heilung durch Sinn):

 

Vom Sinn und Wert des Lebens

(aus einem Vortrag im Wiener Gemeindebezirk Ottakring 1946)

 

Eines Tages sass ein junger Mann vor mir: „Sie haben leicht reden – Sie haben da irgendwelche Beratungsstellen organisiert, Sie helfen Menschen, Sie richten Menschen auf; aber ich – wer bin ich, was bin ich – ein Schneidergehilfe. Was soll ich tun, wie kann ich in meinem Tun dem Leben Sinn geben?“ Dieser Mann vergass, dass es sich nie und nimmermehr darum handelt, wo jemand im Leben steht, etwa in welchen Beruf er hineingestellt ist, sondern dass es sich lediglich darum handeln kann, wie er seinen Platz, seinen Kreis ausfüllt – nicht auf die Grösse des Aktionsradius kommt es an, vielmehr bloss darauf, ob der Kreis ausgefüllt ist, ein Leben „erfüllt“ wird. In seinem konkreten Lebensumkreis ist jeder einzelne Mensch unersetzlich und unvertretbar, und dort ist es jeder. Die Pflichten, die ihm sein Leben auferlegt, hat nur er, und ausschliesslich von ihm ist er gefordert, sie zu erfüllen. Und das Leben eines Menschen, der seinen relativ grösseren Lebenskreis nicht zur Gänze ausgefüllt hat, bleibt unerfüllter als das eines Menschen, der seinem enger gezogenen Kreis wirklich genügt. In seiner konkreten Umwelt kann dieser Schneidergehilfe mehr leisten und in seinem Tun und Lassen ein sinnvolleres, ein sinn-erfüllteres Leben führen als der von ihm Beneidete, sofern der sich seiner grösseren Lebensverant­wortung nicht bewusst bleibt und ihr nicht gerecht wird.

 

Nicht nur in unserem Tätigsein können wir dem Leben insofern Sinn geben, als wir seine konkreten Fragen verantwortungsbewusst beantworten, nicht nur als Handelnde können wir Forderungen des Daseins erfüllen, sondern auch als Liebende: in unserer liebenden Hingabe an das Schöne, das Grosse, das Gute. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Konzertsaal und lauschen Ihrer Lieblingssymphonie, und an Ihrem Ohr rauschen soeben die Lieblingstakte dieser Symphonie vorbei, und Sie sind so ergriffen, dass es Ihnen kalt über den Rücken läuft; und jetzt stellen Sie sich vor, es wäre denkmöglich, was psychologisch so unmöglich ist: dass man Sie in diesem Augenblick fragt – ob Ihr Leben Sinn habe. Ich glaube, sie werden mir Recht geben, wenn ich behaupte: Sie werden in diesem Falle nur eine einzige Antwort geben können, und die würde etwa lauten: „Allein für diesen Augenblick gelebt zu haben – würde schon dafürgestanden sein!“

 

Tätig geben wir dem Leben Sinn, aber auch liebend – und schliesslich: leidend. Wenn das Leben Sinn hat, hat auch das Leiden Sinn. Wie wir uns Schwierigkeiten gegenüber einstellen – darin zeigt sich, wer man ist, und auch damit lässt sich das Leben sinnvoll erfüllen. Vor Jahren kam einmal die Nachricht zu uns, dass die englische Pfadfinderorganisation drei Jungen für höchste Leistungen, die sie vollbracht hatten, ausge­zeichnet hat; und wer erhielt diese Auszeichnungen? Drei Jungen, die unheilbar krank im Spital lagen und trotzdem ihr schweres Los tapfer und würdig ertrugen. Damit war offenkundig anerkannt worden, dass das rechte Leiden des echten Schicksals eine Leistung, und zwar sogar die höchstmögliche Leistung darstellt. Unter Umständen ist Dulden selber die grösste Leistung.

 

Viktor Frankl, Barbara Dobbs, Rosette Poletti: Drei Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, anderen zu zeigen, wo ihr Sinn liegt und wozu es sie braucht:

 

Die Frage kann nicht lauten: „Was habe ich vom Leben zu erwarten?“ – sondern: „Was erwartet das Leben von mir?“ Welche Pflicht, welche Aufgabe im Leben wartet auf mich?

(Frankl)

 

278 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0